Höhenflug: "Freiheit und Beständigkeit"

Eigentlich wollte sie nur wissen, wie man Schaukeln malt. In drei Jahrzehnten hat Ute Protte rund 7.000 Schaukeln, Wiegen und Schaukeldarstellungen zusammengetragen.

Nichts für Tugendwächter: "Mit leichten Schwingen", kolorierter Holzstich (1884). Bild: Altonaer Museum

taz: Frau Protte, schaukeln Sie immer noch regelmäßig?

Ute Protte: Seit diesem Sommer nicht mehr so viel, weil ich gesundheitliche Probleme hatte. Bis dahin aber sehr regelmäßig. Mein Mann hat mir nämlich zu meinem 50. Geburtstag eine große Holzschaukel in unseren Garten gebaut, die ich viel und gern genutzt habe.

Was empfinden Sie beim Schaukeln?

Diese anregende Mischung aus Freiheit und Beständigkeit: Einerseits fliege ich und denke einen Augenblick lang, es geht immer höher, immer weiter. Andererseits weiß ich: Ich bin trotz allem fest auf der Erde und werde gehalten. Es kann nicht passieren, dass ich abdrifte oder wegfliege. Allerdings muss ich sagen, dass mein Forscher- und Sammler-Blick die reine Schaukelfreude immer stärker überwuchert hat. Inzwischen versuche ich beim Schaukeln immer herauszubekommen, welche Muskeln jetzt gerade angespannt werden und wie sich das mit dem Gleichgewichtsgefühl verhält. Aber so ganz ist mir der Genuss natürlich nicht abhanden gekommen.

Warum haben Sie überhaupt angefangen, Schaukeln zu sammeln?

Ich sammle ja eigentlich keine Schaukeln, sondern eher Schaukeldarstellungen: Gemälde und Karikaturen. Hinzu kommen kleinere Skulpturen sowie einige Wiegen und Wellenbadschaukeln aus der Zeit um 1900. Sie sind so groß wie Badewannen und die größten Stücke. Und alles begann eher zufällig - wie so vieles. Ursprünglich wollte ich Darstellungen musizierender Menschen sammeln. Dann merkte ich, dass das uferlos war, und habe in einem Museum ein sehr schönes Schaukelbild gesehen. Das hat mich gereizt, weil mir nicht klar war, wie ein Maler das Schaukeln so authentisch darstellen konnte. Dieser Frage wollte ich nachgehen.

76, war Deutsch- und Geographielehrerin. Schaukeln sammelt sie seit 1980, 2007 schenkte sie sie dem Altonaer Museum.

Ahnten Sie, welche Dimensionen das einmal annehmen würde?

Damals dachte ich ganz naiv, dass ich in Museen insgesamt vielleicht zehn Bilder finden würde. Davon, dass es mal 7.000 würden, war damals nicht die Rede. Ich habe mich in das Thema eingearbeitet, wollte mehr dazu lesen - und stellte fest, dass die Lexika nicht mal das Stichwort "Schaukel" enthielten. Da dachte ich, dann muss ich eben selber sammeln und forschen. Eigentlich ist diese Schaukelsammlung also aus Protest gegen eine Forschungslücke entstanden.

Wie hat Ihre Umwelt auf Ihr neues Hobby reagiert?

Da gibt es zwei Fraktionen. Die einen springen sofort an und erwähnen Fontanes schaukelnde "Effi Briest" oder den Rokoko-Schaukelmaler Jean-Honoré Fragonard. Die anderen verfallen in betretenes Schweigen und denken: Jetzt hat sie aber einen komischen Tick bekommen. Aber ich muss sagen, dass mich dieses Sammeln richtig glücklich macht. Ich hatte so viele Aha-Erlebnisse, wenn ich auf etwas stieß, das ich noch nirgends gelesen hatte.

Zum Beispiel?

Als ich bemerkte, wie sich das Schaukeln im 18. Jahrhundert in Europa etablierte: Den Anfang machte der Adel. Er sah es als sein Lebensrecht an, zu schaukeln, weil es Spaß machte. Auf der anderen Seite war das Bürgertum, das diese lockere Haltung eigentlich missbilligte, aber auch schaukeln wollte. Als Bürger durfte man aber keinen Spaß haben, sondern musste seine Pflicht tun. Also haben sie die Schaukel "Motions-Maschine" genannt und deren gesundheitsfördernde Wirkung gepriesen.

Seit wann schaukelt die Menschheit eigentlich?

Das älteste Zeugnis stammt aus der minoischen Kultur. Man hat in einem Grab eine kleine Schaukelfigur gefunden, die um 500 vor Christi Geburt entstand. Aber es spricht nichts dagegen, dass schon vorher geschaukelt wurde. Recht bekannt ist auch der "Schaukelmaler" der griechischen Antike, der sich auf Vasen verewigt hat.

Und später kam das Schaukeln dann in ganz Europa in Mode.

Viel geschaukelt wurde zum einen während der Zeit des Rokoko: Damals gehörte Schaukeln zur höfischen Gartenkultur. Die Adligen taten so, als ob sie wie Schäfer lebten, und dazu gehörte natürlich die Schaukel - mit starkem erotischem Akzent. Denn den wohl verhüllten Damen des 18. Jahrhunderts konnte man beim Schaukeln weit in die Dessous gucken. Die zweite Schaukel-Welle grassierte um 1900. Das Massenmedium der Bildpostkarte kam auf, und da gibt es etliche, die schaukelnde Damen zeigen. Solche Karten schickten Männer ihren Freundinnen, um - ohne viele Worte zu machen - ein gemütliches Stelldichein zu verabreden.

Haben nur Frauen geschaukelt?

Um 1900 in Deutschland schon. Ein gestandener Mann konnte sich vielleicht auf eine Schiffsschaukel stellen. Aber sich einfach auf eine Kinderschaukel setzen - das tat eher die verspielte Frau.

Und Mädchen?

Anfangs nicht. Bis zum beginnenden 19. Jahrhundert sitzen etwa auf Schaukelbildern in Lehrbüchern immer Jungen. Mädchen, fand man bis dato, brauchten keine Freiheit. Die bekamen bestenfalls eine Puppenstube, damit sei ihre Mutterrolle trainieren konnten.

War Schaukeln je Politikum?

Gewissermaßen schon. In Zeiten von Diktaturen etwa tauchen in Karikaturen besonders viele Schaukeln auf. Wir werden verschaukelt, hieß es dann - auch opportunistische Politiker, die sich nicht zwischen zwei Richtungen entscheiden konnten, setzten Karikaturisten gern auf die Schaukel. Die Schaukel ist also nicht nur Freiheitssymbol, sondern durchaus ambivalent. Ganz zu schweigen von der "Bogerschaukel", einem Folterinstrument, das der SS-Mann Wilhelm Boger im KZ Auschwitz einsetzte: Er ließ die Menschen kopfüber an den Kniekehlen aufhängen und schaukelte sie, um ihnen Geständnisse zu entlocken. Sie gilt bis heute als besonders sadistisches Folterinstrument.

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