Höhenflug von Union Berlin: Gegenmodell zum Großkotz Hertha
Dass Union Berlin jetzt Europa League spielt, ist eine Sensation. Die Fußballfolklore der Underdogs erzählt einiges über vernünftiges Wirtschaften.
E s soll Menschen geben in Köpenick, die sich die aktuelle Tabelle der Männer-Bundesliga ausschneiden. Oder, vielleicht zeitgemäßer, abfotografieren. Union Berlin, Tabellenführer in der Fußballbundesliga. Dass sie das noch erleben. Es ist eine beispiellose Geschichte des Aufstiegs, gegen die Aschenputtel geradezu nach Establishment aussieht.
Union also, dem viele im ersten Jahr Oberhaus nicht mal den Klassenerhalt zutrauten, hat den neureichen Rivalen Hertha hinter sich gelassen und sich bis an die Spitze gemausert. Und es ist wirklich bemerkenswert, wie dieser Aufstieg verlief: Platz 11 im ersten Ligajahr, dann Platz 7, dann Platz 5.
Schon die Tatsache, dass Union jetzt Europa League spielt, ist eine Sensation. Und die erste Liga eh. Union, nie richtig groß gewesen, war in den Neunzigern kurz vor klinisch tot. Gefälschte Bankbürgschaften, Schuldenberge, verweigerte Lizenzen, Rettungsaktionen der Fans, zuletzt das Darlehen von Michael Kölmel: Der Weg zur Rettung ist längst Folklore. Auferstanden aus Ruinen, hat der Köpenicker Klub einen Marsch wie kaum einer zuvor hingelegt, von der dritten Liga in die erste. Die sportlichen Ursachen – von der hervorragenden Personalpolitik bis zur klugen Mischung aus Kampf und Spiellust, von den mittlerweile sehr guten Strukturen bis zur Geduld der Fanszene – sind hinreichend analysiert worden.
Union Berlin ist freilich nicht der Ritter in der goldenen Rüstung. Immer wieder gab es in den Jahren wachsenden Erfolgs auch andere Geschichten aus dem Inneren: Rassismusvorwürfe am Nachwuchsleistungszentrum, Beschwerden aus dem weiterhin stiefmütterlich behandelten Frauenteam wegen fehlender Unterstützung.
Üblicher Fußballverein mit allerlei Untiefen
Union Berlin, das ist auch ein üblicher deutscher Fußballverein mit allerlei Untiefen. Allerdings einer, dem gelungen ist, was die meisten anderen Klubs niemals schaffen: mehr über sich zu erzählen als den sportlichen Erfolg. Eine Marke, die gerade deshalb sportlich so erfolgreich ist, weil sie keinen derart hohen Druck hat, sportlich erfolgreich sein zu müssen. Man kann es sich leisten, sich Zeit zu nehmen, günstig einzukaufen, immer noch den Nichtabstieg als Ziel auszurufen. Das Gegenmodell zu Großkotz Hertha.
Von Märchen sagt man, dass sie auch dazu dienen, Gesellschaftsmodelle zu erhalten. Das arme, bescheidene Mädchen, das eben doch den reichen Prinzen kriegen kann. „Aufstieg ist möglich“ statt „Klassengesellschaft abschaffen“. Und wenn Union Berlin mit einem Zehntel des Marktwerts, den der FC Bayern hat, aktuell an der Spitze steht, ist das natürlich auch so eine Erzählung. Man kann es doch schaffen. Wunder gibt es noch. Manche fühlen sich gar an den englischen Außenseitermeister Leicester City erinnert.
Faktisch natürlich bestätigen solche Ausnahmen die Regel. Und dennoch ist Union vielleicht ein Vorbild, wie ein zumindest etwas sinnvolleres Wirtschaften des Fußballs funktionieren kann. Mit ein bisschen weniger absurden Summen, ein bisschen nachhaltigerer Arbeit, einer etwas anderen Story. Das alles findet jetzt auch Uli Hoeneß gut. Ein Sensationsmeister Union Berlin würde viele Probleme des kaputt gewirtschafteten Fußballs sehr wirksam übertünchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Amnesty-Bericht zum Gazakrieg
Die deutsche Mitschuld
Wirbel um Schwangerschaftsabbruch
Abtreiben ist Menschenrecht
Miese Arbeitsbedingungen bei Lieferando
Darf's noch etwas mehr Ausbeutung sein?
Hilfslieferungen für den Gazastreifen
Kriminelle Geschäfte mit dem Hunger
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Batteriefabrik in Schleswig-Holstein
„Der Standort ist und bleibt gut“