Hochhaus der landeseigenen Howoge: Eingesperrt wohnen
Seit zehn Wochen ist der Fahrstuhl in einem 12-stöckigen Wohnhaus kaputt. Dabei sind viele Menschen dort darauf angewiesen, weil sie im Rollstuhl sitzen.
So richtig an der frischen Luft oder ansatzweise in der Natur war Karin Wehn das letzte Mal vor ganzen zehn Wochen. Ihr Balkon im vierten Stock ist momentan das Maximum der Gefühle. Denn seit dem 21. Februar konnte sie ihre Etage nicht mehr verlassen. Seitdem ist der große der zwei Aufzüge ihres Wohnhauses in der Gitschiner Straße kaputt. Nur in ihn passt ihr Rollstuhl.
Damit ist sie nicht allein. Die blonden Haare fallen Karin Wehn ins Gesicht, als sie sich über ihre Handtasche auf ihrem Schoß beugt und in ihr nach der Liste sucht. Sie hat sie gesammelt, die Namen der Betroffenen. Zehn weitere Hausbewohner*innen hat sie aufgeschrieben. Alle wohnen wie sie in dem zwölfstöckigen Wohnhaus, und wie sie sind sie seit mehr als zwei Monaten auf ihren Etagen gefangen. Sie alle sitzen im Rollstuhl und leiden massiv unter der Einschränkung.
Aber auch dem Rest des Hauses erschwert der kaputte Fahrstuhl das Leben, viele der Mieter*innen sind in ihrer Mobilität eingeschränkt. Lange war das Haus nahe der U-Bahn-Station Prinzenstraße für Senior*innen vorgesehen. Auch heute noch ist die Mehrheit der Mieter*innen in den 140 Wohneinheiten über 65 Jahre alt.
Für die, die einen Rollator brauchen oder altersbedingt weniger ausdauernd sind, ist Treppensteigen unmöglich. „Regelmäßig bilden sich lange Schlangen vor dem kleinen Fahrstuhl mit bis zu 20 Minuten Wartezeit“, erzählt Wulf Niepold, Organisator der Mieter*innentreffs und gute Seele des Hauses.
Wulf Niepold, Organisator der Mieter*innentreffs
Seit 2022 ist die Howoge, eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft, neue Eigentümerin des Hauses, zuvor gehörte es der Deutschen Wohnen. Karin Wehn ist 2016 eingezogen. In ihrer Wohnung steht ein Pflegebett, von dem man auf einen gigantischen Fernseher oberhalb einer Vitrine blickt.
Seit die 55-Jährige 2009 an einer Gehirnentzündung erkrankt ist, braucht sie einen Rollstuhl, normalerweise schränkt sie das nicht groß ein. Sie habe Freund*innen getroffen, sei einkaufen oder sehr gern ins nahe gelegene Kino gegangen. „Ich war auch gerne am Landwehrkanal spazieren“, erzählt sie.
Dennoch ist Wehn abhängig vom Pflegedienst. Eine Sprecherin vom Pflegedienst erzählt: „Unsere Arbeit hat sich in den letzten Monaten, bedingt durch den Fahrstuhlausfall, massiv erschwert.“ Normalerweise könnten die Patient*innen gemeinsam Mittag essen in einer extra dafür angemieteten Wohnung. Nun sei das Essen manchmal schon kalt, wenn es bei ihr ankomme, sagt Wehn. Sie fühlt sich in ihren eigenen vier Wänden eingesperrt, seit der große Fahrstuhl kaputt ist. „Es ist wie zu Corona“, klagt sie.
Wenn früher der Fahrstuhl mal defekt war, konnte er normalerweise innerhalb weniger Tagen repariert werden, erinnert sie sich. In einem Aushang am Fahrstuhl aber teilte die Howoge am 21. Februar mit, dass sie keinen konkreten Einbautermin nennen können. Man bedauere die Zumutung für die Bewohner*innen. Sie würden alles daran setzen, um die Reparatur innerhalb der nächsten Tage zu ermöglichen. Der taz teilt die Howoge mit, dass die „Umlenkrollen“ erneuert werden müssen. Das Ersatzteil läge der Wartungsfirma nicht vor, sondern müsse neu angefertigt werden, dazu kämen Lieferengpässe.
Um die tägliche Versorgung durch Lebensmittel und Medikamente kümmert sich zu großen Teilen Wehns Freund. Er wohnt sechs Stockwerke über ihr und hat keine Behinderung. „Aber er hasst einkaufen“, erzählt Wehn. Deshalb habe sie die Aufgabe auch auf Freund*innen verteilt oder greift notfalls auf Dienstleister und Online-Supermärkte zurück.
Ausgeschlossen von den Treffen mit anderen
Am 11. April traf sich wie jeden Monat die Mieter*inneninitiative. Hauptthema diesmal: die prekäre Fahrstuhllage. Normalerweise ist Wehn regelmäßig dabei, nun kann sie nicht teilnehmen. Aus den Gemeinschaftsräumen im Erdgeschoss dringt Stimmengewirr. Rings um eine lange Tafel sitzen etwa ein Dutzend Mieter*innen sowie im Haus arbeitende Pfleger- und Sozialarbeiter*innen.
Brigitte Döller, Physiotherapeutin, erzählt auf dem Treffen, dass eine ihrer Patientinnen bereits depressive Verstimmungen habe. Sie habe auch im Februar einen Termin zur Lymphsprechstunde verpasst, auf den sie monatelang bei der Charité wartete. Auch den neuen Termin Ende April konnte ihre Patientin nicht wahrnehmen. Das darf nicht passieren, weil ein Fahrtstuhl kaputt ist, sind sich alle einig.
An der Mitte des Tischs sitzt Wulf Niepold, er leitet das Treffen. Er hat im Namen der Mieter*inneninitiative eine Handlungsaufforderung an die Howoge formuliert. Geschäftig sortiert er Papiere und liest vor: „Die Mieterinitiative fordert seit mehr als fünf Jahren die Wiederherstellung des rollstuhlgerechten kleineren Fahrstuhls.“ Im Rahmen einer Fahrstuhlerneuerung 2018 seien neue Kabinen eingebaut worden, sodass der eine Fahrstuhl noch größer und der andere dafür verkleinert wurde. Davor sei eine Fahrt in beiden mit einem Rollstuhl möglich gewesen.
Schon damals wehrte sich die Mieter*innengemeinschaft. Mit einer Vergrößerung könne nach vielen Jahren wieder eine zumutbare Beförderung im Hause möglich werden, führt Niepold aus. Eine, die auch bei Ersatzteilmangel nicht zusammenbreche. Reihum wandert die Liste um den Tisch. Insgesamt werden es 53 Unterschriften.
Den genauen Aufbau vom Schacht kennen die Bewohner*innen nicht; sie mutmaßen, dass ein zweiter, größerer Fahrstuhl in den Schacht hineinpassen dürfte. Zu den Umbaumaßnahmen aus der Vergangenheit kann auch die Howoge keine Auskunft geben. Ihr lägen zu den Entscheidungen der Voreigentümer keine Informationen vor. Die Howoge weist außerdem darauf hin: „Es ist an sich nicht ungewöhnlich, dass in Häusern mit mehreren Aufzügen diese unterschiedliche Größen vorweisen.“ Und der größere, zu reparierende sei schließlich rollstuhlgeeignet.
Bettina Kramp von der Arbeiterwohlfahrt Berlin ist für die Betreuten in dem Haus zuständig. Gewundert habe sie der Ausfall nicht, seit 20 bis 30 Jahren werde das Objekt vernachlässigt. Auch sie ist frustriert von der Situation und würde Karin Wehn und anderen Betroffenen gern helfen. Die beeinträchtigten Bewohner*innen haben sie bisher nicht mobilisiert.
Hilfe? Kommt offenbar nicht an
Unterstützung sollten die Betroffenen von der Howoge erhalten. „Wir bieten in der Zeit des Ausfalls Hilfestellungen an“, stand auf dem Aushang, darunter einer Telefonnummer. Worin die Unterstützung besteht, das wissen die Bewohner*innen nicht.
Kiezhelfer*innen könnten Betroffene bei Besorgungen oder auf dem Weg zum Arzt unterstützen, teilt die Howoge der taz mit. „Darüber hinaus organisiert eine Rahmenvertragsfirma in unserem Auftrag sogenannte Treppentransporte und tragen Mieterinnen und Mieter im Notfall die Treppe hoch beziehungsweise herunter.“
Brigitte Döllers Patientin hatte so einen Notfall. Ihr Katheter sei herausgerutscht und musste erneuert werden. Weder der Pflegedienst noch die Ärzte der Bereitschaft könnten das machen. Daher habe man die Feuerwehr geholt. „Aber die waren total biestig“, sagt Döller. Normalerweise tragen sie nicht hoch, hätten sie gesagt. Böllers Patientin habe gesagt: „Dann lassen sie mich liegen und ich sterbe hier und jetzt.“
Karin Wehn hat die Nummer zum Howoge-Kundenzentrum nicht gewählt. Sie glaubt nicht, dass das was bringt. „Mit mir wiegt der E-Rolli 200 Kilo, das kann man keinem zumuten.“ Bei einzelnen Hausbewohnern mag das eventuell gehen, mutmaßt sie.
Die Bauarbeiten beginnen
Zum 20. April wurde der Aufzugschacht für die Reparatur eingerüstet, nur fertig ist damit noch lange nichts. Auch die zweite Umlenkrollen ist derart beschädigt, dass diese ebenfalls ausgetauscht werden muss, teilt die Howoge mit. Dabei hatte vor einem Jahr erst ein Fachunternehmen der Anlage einen guten Zustand der Anlage bezeugt, schreibt die Howoge. Die beauftragte Firma schätzt, dass noch ein bis zwei Wochen ins Land gehen bis zur Instandsetzung.
„Wer weiß, ob die das wirklich in der Zeit hinkriegen“, zweifelt Karin Wehn. Sie erzählt von einer Nachbarin, die inzwischen mit dem Gedanken spielt, umzuziehen. Sie selbst möchte bleiben. Sie hat hier alles, was sie braucht: ihren Freund, ihr Kino und die Spaziergänge am Landwehrkanal. Nur eins fehlt aktuell: eine Lösung für den Aufzug, um wieder selbstbestimmt zu leben.
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