Hobbymusiker über Orgelleidenschaft: „Ich bin der Klempner der Musik“
Zum Spielen geht Sven Wortmann in seinen Keller in Frankfurt-Rödelheim. Dort hat der gelernte Heizungsinstallateur eine riesige Kinoorgel aufgebaut.
taz: Herr Wortmann, Sie haben in Ihren Keller in Frankfurt-Rödelheim eine Kinoorgel gebaut. Warum?
Sven Wortmann: Ich habe als Kind Orgelmusik im Radio gehört. Keine klassische Musik, sondern Unterhaltungsmusik. Das hat mich so fasziniert, dass ich meinen Eltern auf den Nerven herumgetanzt bin und denen klar gemacht habe, dass ich Orgel spielen will.
taz: Und die haben Ihnen dann eine Orgel gekauft?
Wortmann: Nein. Ich habe erst mal das Akkordeon meiner Mutter bekommen, weil meine Eltern gesagt haben, so eine Orgel ist teuer und wer weiß, ob du dabei bleibst. Dann habe ich mit sieben Jahren angefangen, Akkordeon zu spielen, und drei, vier Jahre Unterricht gehabt.
Der Mensch
Sven Wortmann, 58 Jahre alt, wurde in Eppstein im Taunus geboren. Nach der Realschule machte er eine Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur im elterlichen Betrieb. Mittlerweile macht auch eines seiner Kinder dort eine Ausbildung. Mit 19 Jahren begegnete Wortmann erstmals einer Kinoorgel. Seit 2005 spielt er auf Veranstaltungen auch zu Stummfilmen.
Die Kinorgel
Weil Stummfilme aber nun schon seit geraumer Zeit vom Tonfilm verdrängt wurden und nur noch als besonderes Spartenprogramm in Kinos zu sehen sind, gibt es Kinoorgeln inzwischen eher in Museen zu bestaunen. Das noch als Stummfilmkino eröffnete „Babylon“ in Berlin verfügt über die einzige am originalen Kinostandort erhaltene Kinoorgel in Deutschland.
taz: Aber irgendwann konnten Sie ihre Eltern doch überzeugen?
Wortmann: Mit 12 oder 13 habe ich dann eine elektronische Heimorgel gekriegt, die hat damals 6.000 Mark gekostet. Auf der habe ich ziemlich lange gespielt. Irgendwann habe ich dann im Radio gehört, dass im Filmmuseum in Frankfurt eine Kinoorgel steht, auf der jemand eine Stummfilmbegleitung gemacht hat. Der hat dann vorgespielt, was das Instrument kann, und da ist mir wieder eingefallen, was ich als Kind gehört habe und dachte: Das könnte es sein.
taz: Und dann?
Wortmann: Dann bin ich da hingegangen und habe mir das angeschaut. Am Schluss fragte der Mensch hinter dem Spieltisch, ob im Publikum jemand ist, der Orgel spielen kann. Da habe ich mich gemeldet, und er fragte, ob ich es mal probieren will. Dann saß ich in meiner Hilflosigkeit hinter diesem Instrument, denn das war keine Orgel, wie ich sie von zu Hause kannte, sondern eine richtige Kinoorgel mit Pfeifen und Perkussionsinstrumenten, Xylophon, Trommeln und so was. Und dann durfte ich darauf loslegen.
taz: Wie war das?
Wortmann: Das ging natürlich ziemlich in die Hose. Der Witz war nur: Ich war angestachelt. Ich wollte mich jetzt unbedingt mit diesem Instrument auseinandersetzen. Daraufhin habe ich versucht, an dieser Orgel Übungszeiten zu kriegen. Was schwierig war, weil im Kino des Filmmuseums eigentlich immer irgendwelche Vorstellungen liefen. Ich musste dann auf Zeiten ausweichen, wo kein Kino war, meistens samstagvormittags. Und dann durfte ich ein bisschen darauf üben und spielen.
taz: Das hat Ihnen aber nicht gereicht?
Wortmann: Hinten und vorne nicht. Also habe ich geguckt, ob ich irgendwo so eine Pfeifenorgel herkriege. Über meinen damaligen Orgellehrer, der war Kirchenmusiker, habe ich dann preiswert eine alte Kirchenorgel bekommen. Die war von der Konstruktion her genauso aufgebaut wie eine Kinoorgel, nur ohne Xylophon und Glockenspiel und Trommeln. Ich musste aber leider feststellen, dass das, was da rauskommt, nicht ganz so klingt wie das im Filmmuseum.
taz: Wie sind Sie dann zu einer richtigen Kinoorgel gekommen?
Wortmann: Ich habe mich bei Leuten, die sich mit Kinoorgeln beschäftigen, umgehört. Ich war dann dreimal in London bei der Cinema Society und habe mir verschiedene Orgeln und die Technik angeschaut, um zu sehen, was ich noch brauche. Aus den USA habe ich mir einen Spieltisch und ein Gebläse bestellt, aus England Pfeifen und Perkussionsinstrumente, Xylophon und Glockenspiel. Den Rest habe ich mir selber dazu gebaut.
taz: Aus wie vielen Teilen besteht Ihre Orgel? Allein die Pfeifen füllen ja schon einen ganzen Raum …
Wortmann: Sehr viele. Ich habe die Pfeifen irgendwann mal gezählt, da kam ich auf 803. Aber was dann noch so an Einzelteilen dran ist, keine Ahnung.
taz: Wie lange haben Sie gebraucht, um sie zu bauen?
Wortmann: 1994 habe ich mit dem Spieltisch angefangen, 2002 mit dem Rest, 2018 konnte ich dann ein bisschen darauf spielen. Danach ging es um den Feinschliff. Die Pfeifen waren ja von verschiedenen Orgeln und mussten aufeinander abgestimmt werden. 2020 hatte ich das Instrument dann so weit, dass ich einigermaßen damit spielen konnte. In der Zeit bis jetzt gab es noch ein paar Ergänzungen, wie die Windregler, mit denen ich die Lautstärke reguliere.
taz: Apropos Lautstärke: Wenn Sie in Ihrem Keller spielen, ist das ziemlich laut und man hört die Musik im ganzen Haus. Was sagen denn Ihre Nachbar*innen dazu?
Wortmann: Ich spiele nur zu humanen Zeiten. Ich fange morgens nicht vor 8 Uhr an und spiele abends meistens auch nicht länger als bis 20 Uhr. Von der Lautstärke her ist das natürlich schon ein Erlebnis, besonders bei den tiefen Tönen. Bei dem Mieter im ersten Stock fangen dann auch mal die Heizkörper an zu vibrieren. Wenn ich Basspfeifen spielen muss, versuche ich das möglichst kurz zu halten, damit die Heizkörper nicht von der Wand hüpfen.
taz: Haben sich Ihre Nachbarn da schon mal beschwert?
Wortmann: So wirklich beschwert hat sich bislang keiner. Und wenn jemand sagen würde: Ich habe heut einen Zwölfstundentag hinter mir, mir geht es beschissen, dann würde ich eben einen Tag aussetzen.
taz: Nun ist ja quasi Ihr ganzer Keller eine riesige Orgel. Wie haben Sie dafür die Erlaubnis bekommen? Oder gehört Ihnen das Haus?
Wortmann: Ich habe das damals mit meinem Vater abgesprochen, dem hat das Haus gehört. Mittlerweile gehört es meiner Schwester und mir.
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taz: Kinoorgeln wurden Anfang des 20. Jahrhunderts zur Begleitung von Stummfilmen eingesetzt. Der Keller ist ja sehr klein. Platz für eine Kinoleinwand oder Zuhörer*innen gibt es kaum. Was bringt eine Kinoorgel ohne Kino und ohne Publikum?
Wortmann: Ich habe bei mir in der Wohnung noch eine kleine digitale Kinoorgel stehen. Das ist sozusagen eine elektronische Kopie von dem, was ich unten im Keller habe. Sie ist mobil, und damit trete ich bei der einen oder anderen öffentlichen Veranstaltung auf und mache Stummfilmbegleitung. Es ist aber nicht das Klangerlebnis wie früher im Filmmuseum oder eben bei mir unten im Keller.
taz: Mit der Verbreitung des Tonfilms sind auch Kinoorgeln weitgehend verschwunden. Gibt es noch andere Kinoorgler*innen in Deutschland? Gibt es so etwas wie eine Kinoorgler*innen-Szene?
Wortmann: Es gibt eine Kinoorgel-Szene in Deutschland, die ist allerdings nicht wirklich vernetzt. Es gibt hier keine festen Organisationen wie in Großbritannien oder den USA. Wir sind aber mehr oder weniger im lockeren Kontakt. Wenn es irgendwo ein neues Instrument gibt, dann fährt man mal dahin und schaut sich das an. Das Problem ist, dass die Mitglieder in dieser Szene eher schon gesetzteren Alters sind, und die reisen nicht mehr gerne und treffen sich auch nicht mehr so gerne mit anderen Leuten. Der älteste bei uns ist 92 Jahre alt.
taz: Gibt es auch Frauen in der Szene?
Wortmann: In Berlin gibt es im Kino „Babylon“ eine Frau, die dort regelmäßig Stummfilmbegleitung macht. Ansonsten fällt mir keine ein. Es ist eine ziemlich männlich dominierte Szene. Es gibt mehr leidende Ehefrauen und Partnerinnen, die sich mit diesem Hobby arrangieren müssen, als aktive Spielerinnen.
taz: Wie ist das bei Ihnen, leidet Ihre Partnerin auch unter ihrem Hobby?
Wortmann: Ich bin zwar verheiratet, aber wir leben nicht mehr zusammen. Da hat die Orgel schon auch ihren Teil dazu beigetragen. Aber wir können gut miteinander.
taz: Ihr Instrument ist die letzte Kinoorgel Frankfurts. Wie viele Kinoorgeln gibt es noch in Deutschland?
Wortmann: 25. Darunter aber viele in Museen, wovon einige nicht mehr gut spielbar sind.
taz: Sie haben aber wahrscheinlich die einzige Kellerorgel, oder?
Wortmann: Im Keller fällt mir sonst keine ein. Ein Bekannter von mir in Celle, der 92-Jährige, hat sein Schwimmbad dafür geopfert. Im Becken steht der Spieltisch, und da wäre auch Platz für Zuhörer.
taz: Im Musikinstrumenten-Museum Berlin gibt es angeblich die größte Kinoorgel auf dem europäischen Festland. Stimmt das, oder ist Ihre größer?
Wortmann: Das Berliner Instrument hat vier Manuale und fünfzehn Grundstimmen. Meine Orgel hat drei Manuale und elf Grundstimmen, ist also etwas kleiner. Die Orgel in Berlin wurde aber auch für einen größeren Raum gebaut als meinen Keller. Ich würde die Kiste gerne mal spielen, um zu sehen, was sie kann.
taz: Sie sind eigentlich gelernter Heizungsinstallateur. Hat das was mit Ihrem ungewöhnlichen Hobby zu tun?
Wortmann: Der Beruf Gas- und Wasser-Installateur oder Klempner ist bei uns schon sehr lange in der Familie verwurzelt. Ich bin die fünfte Generation.
taz: Haben Sie nie überlegt, Orgelbauer zu werden?
Wortmann: Ich habe die Kinoorgel im Filmmuseum während meiner Ausbildung kennengelernt. Als ich ausgelernt war, hatte ich die Idee, Orgelbauer zu werden. Ich habe mich dann mit dem einzigen Orgelbauer in Frankfurt unterhalten. Das war ein sehr netter und vor allem sehr weitblickender Mensch. Er meinte, es wäre gut, neben dem Beruf auch ein Hobby zu haben. Das habe ich damals nicht verstanden. Später schon.
taz: Nämlich?
Wortmann: Beim Orgelbauen ist es wichtig, auf Kundenwünsche einzugehen. Ich weiß nicht, ob ich damit glücklich geworden wäre. Bei meinem Instrument da unten habe ich meine Wünsche und Vorstellungen in die Tat umgesetzt und musste nicht auf jemanden hören, der von Kinoorgeln keine Ahnung hat. Als Installateur ist mein Broterwerb abgedeckt und ich habe ein schönes Hobby, wo ich mich austoben kann und wo ich ganz viel Wissen aus meinem Beruf mit rein nehmen kann. Bei den Röhrenglocken, die so klingen wie Kirchturmglocken, habe ich zum Beispiel Heizungsrohre genommen.
taz: Wirklich billig war die Kellerorgel aber ja wahrscheinlich trotzdem nicht …
Wortmann: Ich habe es nie nachgerechnet. Ich habe jede Menge Arbeitszeit reingesteckt, allein weil ich jede Menge Material, das ich irgendwo gefunden habe, recycelt habe, statt es neu zu kaufen. Ich habe da viele Wochenenden, Feiertage und auch viel Zeit abends unter der Woche reingesteckt.
taz: Können Sie nicht mal eine ungefähre Größenordnung sagen?
Wortmann: Beim besten Willen nicht. Ich weiß, dass ich für Perkussionsinstrumente mal 450 Pfund bezahlt habe. Für ein paar Pfeifen 300 Pfund. Für ein paar gebrauchte Kirchenorgelregister 1.000 oder 1.200 Mark. Für den Spieltisch, der unten im Keller steht, habe ich 2.000 Dollar bezahlt, für das Gebläse 1.000 Dollar. Aber das sind alles nur so Bruchstücke. Das meiste, was da drinsteckt, ist wirklich Zeit.
taz: Die meisten dürften, wenn überhaupt, Kirchenorgeln kennen. Was ist der Unterschied zu Ihrer Kinoorgel?
Wortmann: Mit der Kinoorgel versucht man, ein Orchester zu imitieren. Dementsprechend ist auch die Aufteilung des Instruments. Wenn man über die Schalter drüberguckt, mit denen man die einzelnen Pfeifen einschalten kann, steht da Tuba, Flöte oder Violine, Saxophon oder Xylophon oder Glockenspiel. Die Kirchenorgel ist eher ein Soloinstrument und will keinen orchestralen Klang erzeugen.
taz: Wie läuft eine Stummfilmbegleitung ab? Gibt es Klassiker, die Sie spielen, oder denken Sie sich selbst Melodien aus?
Wortmann: Es gibt ein paar Stummfilme, zu denen gibt es komponierte Musikstücke. Eine andere Aufführungspraxis, die die Amerikaner gemacht haben, ist, gängige Schlager oder andere Musikstücke dazu zu spielen.
taz: Und wie machen Sie es?
Wortmann: Ich schaue mir vier Wochen vorher den Film an und gucke, was passt. Ich hab einen ganz guten Fundus von Musikstücken aus den 20er Jahren. Wenn ich Stücke kenne, die passen könnten, versuche ich, es durch Zwischenmelodien, durch langsameres oder schnelleres Spielen so hinzukriegen, dass die zu einer Szene im Stummfilm passen. Und dann wiederhole ich den ganzen Film so lange, bis ich weiß, an welcher Stelle kommt zum Beispiel noch ein Geräusch dazu oder an welcher Stelle ich die Musik so abwandeln muss, dass sie synchron dazu passt. Es gibt auch ein paar wenige Improvisationstalente, aber ich bin eher der Handwerker. Ich muss da viel Zeit reinstecken, bis es passt.
taz: Kinoorgeln ist perspektivisch ja eher ein aussterbendes Hobby. Gibt es in Ihrem Umfeld jemanden, an den Sie das weitergeben können, oder stirbt die Kinoorgel irgendwann mit Ihnen aus?
Wortmann: Ich kann musikwissenschaftlich nicht erklären, was ich da mache, weil ich kein studierter Musiker bin. Ich bin eher der Klempner der Musik. Ich weiß, was ich machen muss, damit es gut klingt. Ich kann aber nicht exakt beschreiben, was ich da eigentlich tue. Wenn aber jetzt jemand kommen würde und sagen würde: „Zeig mir doch mal, wie du das machst“, dann ist das natürlich möglich. Ich möchte das nicht für mich behalten.
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