Historikerin über ukrainischen Fußball: „Sportler müssen laut sein“

Welche Rolle spielen Sportler in einem Land, in dem Krieg herrscht? Kateryna Chernii über Fußball, Social Media und enttäuschte Fans.

Anatoli Timoschtschuk mit freiem Oberkörper unterhält sich mit einem ukrainischen Fan

Anatoli Timoschtschuk (R) 2016. Mittlerweile ist er Co-Trainer von Zenit St. Petersburg und schweigt Foto: imago images

taz am wochenende: Frau Chernii, der Krieg in der Ukraine ereignet sich in einem Zeitalter, in dem Sport­le­r:in­nen durch Social Media politisch viel präsenter sind als früher. Sehr viele ukrainische Sport­le­r:in­nen positionieren sich gerade und posten regelmäßig. Welche Rolle spielen sie für die ukrainische Bevölkerung?

Kateryna Chernii: Das ist zunächst mal nichts Besonderes, jeder Ukrainer positioniert sich gerade aktiv. Jeder hat das Gefühl, etwas beitragen zu müssen, damit der Krieg zu Ende ist. Die Sportler sind aber schon vorher einem breiten Publikum bekannt gewesen. Ich habe mir am Wochenende für eine kurze Ablenkung die Leichtathletik-WM angeguckt, wo die ukrainische Hochspringerin Jaroslawa Mahutschich die Goldmedaille geholt hat. Ich habe wirklich geweint.

Erfolg im Sport gibt einen kleinen Moment der Hoffnung, der Freude, auch wenn er gerade nicht das Wichtigste ist. Und die berühmten ukrainischen Sportler haben viele Follower aus dem Ausland. Sie können Informationen weiterleiten darüber, was in der Ukraine passiert. Es reden zwar alle Deutschen vom Krieg, aber wenige gehen so in die Tiefe wie die Ukrainer, weil es für uns so unglaublich schmerzhaft ist. Deshalb ist es wichtig, dass Sportler laut sind.

Also sind die Sport­le­r:in­nen auf Social Media als Multiplikatoren für das Ausland eigentlich wichtiger als für die Ukrai­ne­r:in­nen selbst?

Ich beobachte, dass die Sportler gerade eigentlich gar nicht in der Stimmung sind, an Wettbewerben teilzunehmen. Was sie aber machen können, ist sprechen. Ich glaube nicht, dass sie aktuell eine ganz besondere Rolle spielen. Musiker, Schriftsteller äußern sich genauso viel. Aber das gute Abschneiden bei den Paralympics zum Beispiel war schon auch ein großes Hoffnungszeichen für die Leute in der Ukraine. Grundsätzlich verfolgt trotzdem aktuell kaum jemand Sport, auch ich nicht. Alles, was man im Leben vorher normalerweise gemacht hat, ist vorbei. Die ukrainische Welt steht still.

Es gibt Sportler, die angekündigt haben, dass sie in den Krieg ziehen. Die Klitschkos natürlich, aber auch etwa der olympische Biathlet Dmytro Pidruchnyj, der Schwergewichtsweltmeister im Boxen, Oleksandr Usyk, der MMA-Champion Jaroslaw Amosow. Wie werden diese Sportler wahrgenommen?

Die in Kiew geborene Historikerin forscht am Leibniz-Institut in Potsdam zur Veränderung des ukrainischen und osteuropäischen Sports nach dem Ende der Sowjetunion.

Wie normale ukrainische Bürger. Ich kenne persönlich so viele Leute, die jetzt in die Armee gegangen sind. Es ist die Pflicht der Ukrainer, das Land zu verteidigen, egal, ob du berühmt bist oder nicht. Wieso machen die Brüder Klitschko das? Sie könnten ja gerade ein angenehmes Leben führen. Weil sie Verantwortung für uns alle tragen. Die, die das tun, sind in der Gesellschaft sehr respektiert. Wie aber werden wir nach dem Krieg in die Augen der Soldaten schauen? Denn wir sind nicht an der Frontlinie, wir sterben nicht. Was sie tun, erfordert sehr große Tapferkeit. Die Nato wird uns nicht schützen. Wenn wir also unser Land nicht schützen, was wird morgen?

Sie sind Historikerin und haben sich intensiv mit der Rolle von Fußballern in der Ukraine beschäftigt, vor allem in der Endphase der Sowjetunion und zu Beginn der Unabhängigkeit, und ihren Beziehungen zu Russland. Was haben Sie herausgefunden?

Vielen Fußballinteressierten ist nicht bewusst, wie zentral die ukrainischen Spieler für die Sowjetunion waren, schon in den Siebziger-, Achtzigerjahren. Die erfolgreichsten sowjetischen Spieler und Mannschaften waren aus der Ukraine; in der ukrainischen Sowjetrepublik war das etwas ganz Besonderes. Es gab immer eine große fußballerische Konkurrenz zwischen der Ukraine und Russland. Und Leute wie Walerij Lobanowskyj (damals Trainer von Dynamo Kiew und sowjetischer Nationaltrainer; Anm. d. Red.) waren diejenigen, die während der Perestroika den sowjetischen Fußball ändern wollten.

Eine der Ideen war, dass die Klubs auf wirtschaftliche Rechnungsführung umstellen und damit selbst Geld verdienen sollten, um unabhängig von den staatlichen Strukturen zu sein. Die Idee ist aber mit dem Zerfall der Sowjetunion gescheitert, weil sie am wirtschaftlichen Rahmen der Perestroika orientiert war. Parallel gab es Diskussionen über eine unabhängige ukrainische Liga.

War der Fußball also ein Motor der Unabhängigkeit?

Der Fußball folgte eher, er ging nicht voran. Die Fußballer hatten Angst, dass sie, wenn sie sich zu früh abspalten, die Möglichkeit zur Teilnahme an großen Wettbewerben verlieren. Die Fifa hat später Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion bestimmt. Das war für die ukrainischen Spieler ein Schock, denn das bedeutete, dass sie an der WM 1994 nicht teilnehmen konnten. Und für den russischen Verband wurde es sehr einfach, ukrainische Spieler abzuwerben.

Man muss aber auch den historischen Kontext verstehen: In den vergangenen 30 Jahren hat die Ukraine als Nation sich sehr stark verändert. Damals hieß es: Wir sind doch Sowjetmenschen. Wir sind zwar Ukrainer, aber wir können uns auch vorstellen, Russland zu vertreten, wir haben ja bis gerade auch zusammengespielt. Deswegen war es okay für manche, nach dem Ende der Sowjetzeit für Russland zu spielen. Für andere nicht, viele Karrieren scheiterten auch daran.

Was war das für eine Gefühlswelt für die Fußballer? Zwischen dem Wunsch nach Befreiung von imperialer Macht und dem Selbstbild als Sowjetmensch?

Die Ukraine ist ein sehr großes und heterogenes Land. Die Ukrainer sind vom sowjetischen System geprägt, aber trugen immer auch einen alternativen Blick auf die eigene Identität. Die Fußballer, die sich für Russland entschieden haben, bezeichneten sich vor allem als Sowjetmenschen. Es gab einen in der Ukraine geborenen Spieler, Sergei Juran, der hat gesagt: Ich wurde in der Sowjetunion geboren, warum soll ich da für die Ukraine spielen? Ich bin Ukrainer, aber ich spiele für die Russische Föderation. Im Vergleich zu dem, was wir jetzt haben, war es viel durchmischter, viel unentschiedener. Die Leute hatten viel mehr gemeinsam als meine Generation. Meine Generation hat mit Russen deutlich weniger gemein, wir sind in völlig unterschiedlichen Kontexten aufgewachsen.

Wie wurden Fußballer gesehen, die sich für Russland entschieden?

Als Verräter. Zumindest bei den Fans. Die anderen ukrainischen Spieler haben das anders gesehen. Oleksij Mychajlytschenko, einer der Hauptprotagonisten meiner Dissertation und der beste sowjetische Fußballer 1988, hat erzählt, der russische Verband habe ihm das lukrative Angebot gemacht, Kapitän des russischen Nationalteams zu werden. Er hat gesagt: Ich bin Ukrainer, ich werde das niemals machen. Viele Spieler haben abgelehnt, andere nicht. Und er meinte: Ich kann diese Leute nicht verurteilen. Damals, in der großen wirtschaftlichen Krise, hat auch der finanzielle Aspekt eine wichtige Rolle gespielt. Unter Fußballern wird das mit viel mehr Verständnis wahrgenommen. Aber nicht unter Fans.

Die nationalen und durchaus nationalistischen Debatten prägen den ukrainischen Fußball weiter. Wer singt die Hymne mit, wer spielt in Russland? Jaroslaw Rakitskiy zum Beispiel flog nach seinem Vereinswechsel nach Russland 2019 aus dem Nationalteam.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo.

Bei Rakitskiy finde ich den Fall sehr eindeutig. Nach der Annexion der Krim und dem Donbasskrieg wurde es natürlich sehr negativ gesehen, Geld von Russland anzunehmen, dem Land, das Menschen bei uns ermordet. Rakitskiy hat eine apolitische Position gepflegt: Ich spiele nur Fußball. Aber Sport ist nicht unpolitisch. Jetzt ist er ja interessanterweise wieder aus Russland weggegangen. Im Gegensatz zu Anatoli Timoschtschuk, der immer noch dort ist und sich nicht äußert. Das ist eine sehr große Enttäuschung für alle, er war ja der Star des ukrainischen Fußballs.

Hat nicht jeder Sportler das Recht, dort seinen Arbeitsplatz wahrzunehmen, wo er möchte, ohne sich von Nationalismus vereinnahmen zu lassen?

Es ist leider nicht so einfach. In der realen Welt und in einem Land wie der Ukraine ist das nicht möglich. Wir kennen den Aggressor. Wir sind gerade nicht in einer Phase der Versöhnung zwischen der Ukraine und Russland. Diese Konflikte müssen erst zu Ende kommen und dann können wir die Versöhnung beginnen. Unser Land wird attackiert, wir können nicht sagen: Wir sind doch freie Menschen abseits der Nation. Es heißt in Deutschland: Wir haben Angst vor dem dritten Weltkrieg. Der dritte Weltkrieg ist schon da, aber nur die Ukraine muss darin sterben.

Viele ukrainische Sport­le­r:in­nen haben die russischen Kol­le­g:in­nen auf Social Media sehr direkt mit Verbrechen konfrontiert und sie dazu aufgefordert, sich zu äußern. Die Reaktionen waren eher aus­weichend oder ablehnend. Wie ist die Rolle der russischen Sport­le­r:in­nen in diesem Krieg?

Bei den russischen Sportlern bin ich sprachlos. Vor einigen Tagen gab es eine große Propagandademo für den Krieg. Wer war da? Alexander Bolschunow, in Peking Goldmedaillengewinner im Skilanglauf, berühmte Eiskunstläufer, die bekanntesten Sportler, und geleitet hat das Konzert der russische Sportkommentator Dmitri Gubernijew. Das sagt schon vieles über die Rolle der Sportler. Sie sind ein sehr wichtiger Teil dieser Propaganda. Sie agieren mindestens seit der Dopinggeschichte in dem Modus: Alle hassen uns, wir sind die Opfer. Sie fühlen sich ständig beleidigt, als sei die ganze Welt gegen sie. Nicht alle tun das, aber sehr viele.

Ein paar Tennisspieler haben sich gegen den Krieg geäußert, sie sind unabhängiger und wohnen im Ausland. Es ist eine große Tragödie in Russland: Die Leute, die Verantwortung und Initiative ergreifen müssten, haben in den letzten zehn Jahren nichts unternommen. Sie passen sich an ans Regime. Viele Sportler agieren aus intellektueller Kurzsichtigkeit. Die russischen Künstler sind unabhängiger als die Sportler.

War es richtig, die Sport­le­r:in­nen auszuschließen?

Ich glaube, ja. Sie sind ein Teil des Regimes. Wie kann man dieses Regime noch beeinflussen, wenn die Nato nicht eingreift? Nur durch solche Sanktionen. In den deutschen Medien wird ständig darauf hingewiesen, dass Russland und die Ukraine Brudervölker seien. Aber das ist russische Propaganda aus der Sowjetzeit. Wichtig ist, dass die Russen ihre Verantwortung verstehen. Nur dann kann diese Tragödie enden.

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