Historikerin über Zeitzeugen-Interviews: „Wertvolle historische Quellen“
Die „Werkstatt der Erinnerung“ wurde gegründet, um die Stimmen von NS-Verfolgten zu sammeln. Längst erforscht sie auch jüngere Migrationsbewegungen.
taz: Frau Apel, was macht Hamburgs „Werkstatt der Erinnerung“ einzigartig?
Linde Apel: Ihre Entstehungsgeschichte, die auf einer politischen Entscheidung der Stadt Hamburg basiert. Keine andere Stadt in Deutschland leistet sich seit 30 Jahren eine staatlich finanzierte Interview-Sammlung, die nicht nur Wissenschaftlern, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich ist. Dabei war der Gründungsimpuls zwar, die Stimmen der NS-Verfolgten zu sammeln. Aber es ging immer auch um Gegenwärtiges: um Gespräche mit Nachfahren von Überlebenden und andere Kontexte wie Migration, Alltag von Frauen, Bedingungen von Arbeit, die Entwicklung politischer und sozialer Bewegungen.
Konkurrieren Sie da nicht mit den Geschichtswerkstätten, die Oral History schon seit den 1980ern betrieben?
Ich finde, nein. Zum einen, weil die erste Leiterin der „Werkstatt der Erinnerung“ direkt aus der Geschichtswerkstätten-Bewegung kam. Zum anderen ist die „Werkstatt der Erinnerung“ als Abteilung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Teil eines wissenschaftlichen Instituts. Für die Geschichtswerkstätten sind wir also eher ein Ort, wo sie sich Expertise holen und ihre Interviews archivieren lassen können – wofür sie selbst oft weder die Technik noch das Geld haben.
Auch den Gedenkstätten kommen Sie nicht ins Gehege?
Im Gegenteil. Wir haben eine Reihe von Interviews mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gemeinsam geführt, die hier wie dort archiviert sind. Im aktuellen Kooperationsprojekt geht es um Menschen, die sich für die Entstehung der Gedenkstätte eingesetzt haben. Um Akteure der Erinnerungskultur.
Führen Sie alle Interviews selbst?
Inzwischen schaffen wir das nicht mehr. Anfangs war die „Werkstatt der Erinnerung“ gut ausgestattet, aber heute haben wir nur noch 1,5 Stellen. Deshalb begleiten wir Interviewprojekte, die an uns herangetragen werden, und archivieren die Ergebnisse. Vor Jahren haben wir zum Beispiel in Kooperation mit Psychoanalytikern und -therapeuten vom Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) Menschen interviewt, die die Bombenangriffe auf Hamburg 1943 – den „Feuersturm“ – erlebt hatten. Befragt wurden auch ihre Kinder und Enkel. Einige der Interviews sind heute in der Dauerausstellung des Mahnmals St. Nikolai, der Ruine einer im „Feuersturm“ zerstörten Kirche, zu hören.
Und wie definieren Sie Ihre Rolle als Interviewerin: Psychologin, Beichtmutter, Forscherin?
56, Historikerin, ist seit 2002 Leiterin der Werkstatt der Erinnerung in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg.
Alles das ist wichtig. In erster Linie verstehe ich mich aber als Wissenschaftlerin. Grundsätzlich muss man sich klarmachen, dass jedes Interview eine Kommunikationssituation ist. Das klingt banal, ist aber wichtig, denn kein Interview lässt sich wiederholen. Deshalb nutzen wir ein auch in der Soziologie verwandtes Konzept, das aus vier Phasen besteht: Zunächst bittet man den Interviewpartner, seine Lebensgeschichte zu erzählen. So kann er alles berichten, was ihm wichtig ist. Das ist für viele stressig, weil sie merken: Mir werden gar keine Fragen gestellt, ich soll ins Blaue erzählen. Als nächstes fragen wir zu dieser Eingangserzählung alles, was unklar blieb, nochmal ab.
Mehr nicht?
Doch. In Phase drei kommt unser spezifisches Erkenntnisinteresse zum Tragen und wir fragen nach Aspekten, die noch nicht angesprochen wurden. Die vierte und letzte Phase ist die sogenannte Streitphase. Ob man sie machen soll, ist umstritten. Denn es kann sein, dass der Interviewpartner Dinge erzählt, die man vollkommen absurd findet, die man nicht nachvollziehen kann, die man vielleicht moralisch oder politisch verwerflich findet. Ob man sich das einfach anhört oder ob man dem Interviewpartner sagt, was man davon hält, wird in der Oral History kritisch diskutiert.
Wie gehen Sie damit um?
Da es kein psychologisches Interview ist, höre ich es mir nur an und betrachte es als Teil der ganz persönlichen Verarbeitungsgeschichte dieses Menschen.
Die „Werkstatt der Erinnerung“ befasst sich auch mit Migration. Wer wurde befragt?
Einerseits natürlich jüdische Verfolgte, ehemalige Zwangsarbeiter und DPs, die unter Zwangsmigration litten. Zum Thema „Gastarbeiter“ bzw. der Anwerbung von Arbeitskräften in den 1960er-, 1970er-Jahren haben wir mit Menschen aus Italien und der Türkei gesprochen. Unsere aktuellsten Interviews über Migration sind diejenigen mit Russlanddeutschen aus den 2000ern.
Wie steht es mit den Flüchtlingen von 2015?
Sie möchte ich sehr gern befragen. Ich glaube aber, dafür ist es noch zu früh. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass man mit Menschen, die biographisch im Stress sind, schwer solche „zurückgelehnten“ Interviews führen kann. Und diese Geflüchteten haben – obwohl sie teilweise seit fünf Jahren hier sind – derzeit noch andere Probleme: Sie müssen ankommen, brauchen einen Job, grundlegende Lebenssicherheit, müssen ihre Zukunft bauen.
Wie bewerten die bisher Befragten ihre Migration?
Das ist sehr facettenreich, denn die Befragten reichen von der türkischen Arbeitsmigrantin über den Handwerker auf der Walz, das Au-pair-Mädchen, den kommunistischen Spanien-Kämpfer bis zur Deutschen, die in Lateinamerika eine Kaffee-Finca betreibt. Generell versuchen wir, Migration als Mobilität zu begreifen und weniger den Opferaspekt als den der Selbstbestimmung hervorzuheben. Derzeit – und besonders seit 2015 – wird Migration vor allem als Problem dargestellt. Wir dagegen wollen zeigen, dass Migration eher der Normalfall ist. Dass sie vielschichtig und komplex auftritt und eine Grundbedingung menschlicher Existenz darstellt.
Auch „Wirtschaftsmigration“ gab es zu allen Zeiten.
Wirtschaftliche Gründe waren immer zentrales Movens für Migration. Schauen Sie sich die Geschichte der Deutschen an. Als sie 1845 in diversen Auswanderungswellen in die USA gingen, hatten sie fast nur ökonomische Gründe. Deshalb ärgert es mich, dass wirtschaftliche Gründe in der öffentlichen Debatte hierzulande einen so schlechten Leumund haben. Wir brauchen nur auf unsere eigene Geschichte und die unserer Nachbarn zu schauen. Interviews zum Thema kann sich hier jeder anhören.
Apropos: Wer interessiert sich heute noch für Ihr Interview-Archiv?
Neben Nachfahren von NS-Verfolgten, Schulklassen und Studenten haben sich in den letzten Jahren immer mehr Historiker mit unseren Interviews befasst. Dabei galten sie in der Geschichtswissenschaft lange als „Schmuddelkinder, die man zu unwissenschaftlich und subjektiv fand. Inzwischen ist anerkannt, dass Interviews wertvolle historische Quellen sind. Das hat dazu geführt, dass sich jetzt einige Projekte mit deren Sekundärauswertung befassen.
Das heißt?
Man schaut sich Interviews an, die in den 1980ern, 1990ern, 2000ern entstanden sind und fragt: Wofür sind sie heute relevant? Was wollten die Interviewer damals wissen, was nicht? Bei biographischen Interviews mit jüdischen Verfolgten aus den 1990er Jahren etwa fällt auf: Die Interviewer haben ausschließlich nach der Hamburger Zeit gefragt. Was die Interviewpartner danach erlebten – Deportation, Exil, eventuelle Rückkehr – spielte keine große Rolle. Das lag daran, dass die Forschung damals noch wenig wusste über die NS-Zeit in Hamburg und den Fokus also darauf legte. Auch die Interviewsituation selbst ist also schon zur historischen Quelle geworden.
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