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Historiker über den Klimawandel„Die nationalstaatlich orientierte Weltpolitik ist der Bremser“

Ließe sich die Erderwärmung mit mehr Demokratie stoppen? Ein Interview mit dem Historiker David Van Reybrouck, der beim Wandern einen Gletschersturz erlebte.

Trügerische Ruhe: das Vignemale Massiv in den französischen Pyrenäen Foto: alamy/mauritius Images
Andreas Fanizadeh

Interview von

Andreas Fanizadeh

taz: Herr Van Reybrouck, Sie beschäftigen sich unter anderen mit der Erderwärmung. In Deutschland hatten wir zuletzt einen eher kühlen und teilweise sehr nassen Sommer. Wie war es bei Ihnen?

David Van Reybrouck: Ich habe den Sommer in Belgien und Nordfrankreich verbracht. Im Frühling war es bereits früh trocken und warm, im Sommer sehr heiß, unterbrochen von unglaublich starken Regengüssen. Die Obstbäume, die Apfel- und Birnenbäume, trugen viele und riesige Früchte. Unter der Last brachen oft ganze Zweige ab.

taz: In ihrem Essay-Band „Die Welt und die Erde“ erzählen Sie vom Klimawandel und einer existentiellen Erfahrung. Wann war das?

Van Reybrouck: Das war ein paar Jahre, nachdem ich mein Buch „Der Kongo. Eine Geschichte“ 2010 veröffentlicht hatte. Das Kongo-Buch nahm immer noch sehr viel Platz in meinem Kopf ein. Es zu schreiben, war schwer, aber das Nachleben dann eigentlich noch schwerer. Es war mir wirklich ein Bedürfnis, zwei Monate von der Bildfläche zu verschwinden.

taz: Sie wanderten auf dem Pyrenäen-Höhenweg zwischen Frankreich und Spanien. Haben Sie die ganzen 800 Kilometer geschafft?

Van Reybrouck: Fast. Ich war alleine mit meinem Zelt unterwegs. Nur fünf, sechs Tage war ich mit einem Deutschen zusammen, mit dem ich auch nachher in Kontakt geblieben bin. Wir haben später noch eine gemeinsame Wanderung unternommen, in den Dolomiten. Ein toller Typ, wir haben uns sehr gut verstanden. Aber meistens bin ich allein gegangen.

Bild: Basso Cannarsa/imago
Im Interview: David Van Reybrouck

Geb. 1971 in Brügge, ist ein belgischer Historiker, Ethnologe und Demokratietheoretiker. Im Suhrkamp Verlag erschienen u. a. die Bücher „Die Welt und die Erde. Wie können wir sie bewahren?“ (2025), „Revolusi“ (2023), „Kongo. Eine Geschichte“ (2013); im Wallstein Verlag „Gegen Wahlen“ (2016). Im August wurde Van Reybrouck mit der Goethe-Medaille 2025 in Weimar ausgezeichnet.

taz: Allein im Hochgebirge, das klingt herausfordernd.

Van Reybrouck: Ich erinnere mich an eine Situation im Baskenland. Da war dichter Nebel. Man sah nichts, konnte nicht weitergehen. Im Nebel tauchten ganz plötzlich Kühe vor einem auf, es war etwas unwirklich. Ich musste einen Tag in einem kleinen Dorf bleiben. Dort gab es eine kleine Bibliothek und in der fand ich eine Ausgabe des „Du contract social“ von Jean-Jacques Rousseau. Ich habe damals hauptsächlich seinen Diskurs über die Demokratie gelesen. Und die Inspiration für mein nächstes Buch gefunden. Auf der ganzen Wanderung wälzte ich dann die Gedanken von Rousseau hin und her.

taz: Führten Sie auf der Wanderung ein Tagebuch?

Van Reybrouck: Das mache ich immer. Auch wenn ich aufpasse, nicht zu viel Gewicht mit mir zu tragen. Ein Tagebuch muss dabei sein.

taz: Ein Handy oder ein Smartphone hatten Sie auch mit?

Van Reybrouck: Aber immer aus. Für solche Wanderungen wechsle ich das Gerät und reaktiviere mein altes. Das ist noch primitiver als die frühen von Nokia. So kann ich meine Partnerin oder meine Mutter anrufen oder notfalls meinen Bruder. Für die Routen zerschneide ich die schönsten Wanderkarten, damit ich kein sinnlose Gewicht tragen muss. Wie man mit GPS durchs Gebirge laufen kann, ist mir eher unverständlich. Ich schreibe auch gerne mit der Hand, das Digitale kommt bei mir immer erst am Ende.

taz: Sie schildern in Ihrem Buch, wie Sie bei der Wanderung in den Pyrenäen einen Gletschersturz aus der Nähe erlebten. Was war das für eine Situation?

Van Reybrouck: Das war damals gegenüber des Vignemale-Gletschers. Das Vignemale-Massiv ist auf französischer Seite die höchste Erhebung in den Pyrenäen. Ich hatte mein Zelt mit Blick auf die sehr beeindruckende Nordwand des Vignemale ausgerichtet. Ich saß da in der Dämmerung, als plötzlich der östliche Teil des Gletschers abbrach. Es war ein unheimlicher Krach, haben Sie jemals so etwas gehört?

taz: Einen Lawinenabgang schon, einen Gletscherabbruch nicht.

Van Reybrouck: Lawinen hören sich ähnlich an. Aber das hier hatte eine zusätzliche Dimension. Schneien tut es vielleicht jedes Jahr wieder. Doch wie ein Jahrtausende alter Gletscher binnen dreißig, vierzig Sekunden mit unheimlichem Gebrüll in einer Wolke aus Staub und Geröll verschwindet, das war beeindruckend und beängstigend zugleich. Ich fühlte mich ein wenig wie Caspar David Friedrich, aber nicht mehr im Holozän, sondern im Anthropozän: So klingt das neue Zeitalter. Und, du weißt genau, das haben wir, die Menschen mit der Erderwärmung verursacht.

taz: In der Bundesrepublik dachten wir lange, die Gesellschaft sei bereit für Veränderungen und grüne Reformen. Das ist nun wie weggewischt. Haben Sie die Trendwende bei uns verfolgt, was sagen Sie als Belgier dazu?

Van Reybrouck: Als ich nach dem Kongo-Buch – und angeregt von dem, was die Kongolesen nach dem Ende der Ära Mobutu taten – in dem Band „Gegen Wahlen“ über direkte Bürgerbeteiligungen nachdachte, sagte mein deutscher Verlag: Aber David, pass auf, jetzt hast du einen so guten Ruf und dann schreibst du so etwas. In Deutschland bräuchte es gar keine grundlegende demokratische Erneuerung. In Belgien war es bereits seit Jahren schwierig, eine Regierung zu bilden. Die Parteien blockieren sich gegenseitig. Bei euch glaubten vor zehn, fünfzehn Jahren viele noch, die deutsche Demokratie sei immun gegen Populismus und technologische Entwicklungen, die alles verändert haben.

taz: Die Neue Rechte streitet die vom Menschen verursachten katastrophalen Folgen der Erderwärmung ab. Die USA sind unter Präsident Donald Trump erneut aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen. Sie halten eine neue „Erdpolitik“ in Ergänzung der bisherigen „Weltpolitik“ für dringend notwendig. Was soll sie bringen?

Van Reybrouck: Mit den klassischen Instrumenten der Weltpolitik kommen wir bei den jetzigen Herausforderungen für unseren Planeten nicht weiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vereinten Nationen als die entscheidende Institution eingerichtet, um Weltpolitik diplomatisch auf friedlichem Wege zu regulieren. Die UNO sollte die nationale Souveränität der Staaten garantieren. Nach dem Überfall von Nazis und Sowjets auf Polen und allem, was darauf folgte, war das völlig logisch. Doch heute brauchen wir zusätzliche Instrumente, um den Planeten als Ganzes zu schützen. Klimawandel und Erderwärmung stoppen nicht an nationalen Grenzen.

taz: Verursacher sind jedoch hauptsächlich nationalstaatlich organisierte Ökonomien?

Van Reybrouck: Aber die Ökonomie ist völlig transnational organisiert. Und die UNO versucht schon seit mehr als dreißig Jahren, eine Lösung für das Problem zu finden. Die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem politischen Handeln ist unglaublich. Nächste Woche startet die COP 30, die dreißigste Weltklimakonferenz in Belém, in Brasilien im Amazonasgebiet. Nationale Reflexe verhinderten bislang konsequente planetarische Lösungen, die nationalstaatlich orientierte Weltpolitik ist der Bremser.

taz: Was können wir dagegen tun?

Van Reybrouck: „Erde“ und „Welt“ bedeuten nicht das gleiche, aber beide Systeme hängen voneinander ab. Ich bin Bruno Latour sehr verbunden, bei dem ich in den 1990er-Jahren in Paris studierte. Er hatte damals die Schrift „Wir sind nie modern gewesen“ veröffentlicht. Latour kritisiert darin die starre Trennung von Natur und Gesellschaft. Er nennt es den Gründungsmythos der Moderne. Denn Gesellschaft und Natur stehen miteinander in Beziehung, so wie Welt und Erde. Die Erde erinnert uns jetzt permanent daran, zum Beispiel mit einem Gletscherabbruch.

taz: Sie sagen, die Erde braucht eine bessere Interessenvertretung wie einst 1945 die Welt durch die UNO. Sie sprechen von Weltbürgerparlamenten, deren Vertreter nach sozialer Repräsentation, im Proporz und per Losverfahren bestimmt sein sollen. Also nicht nach Wahlen, Parteien oder Regierungsvertretern. Wie soll das im Weltmaßstab aussehen?

Van Reybrouck: Wir haben mit solchen Bürgerparlamenten inzwischen einige Erfahrung auf lokaler, regionaler, aber auch nationaler Ebene. Etwa im kleinen deutschsprachigen Gebiet Ost-Belgiens. Die haben nun neben dem gewählten Parteien-Parlament eine ständige Versammlung mit normalen Bürgerinnen, repräsentativ im Losverfahren bestimmt. Meine Partnerin Eva Rovers beschreibt, wie Aachen, Paris oder Marseille den Vorschlag ebenso übernommen haben und ausprobieren, die Bürger besser und ständig mit einzubeziehen.

taz: Diese Bürgerparlamente können derzeit nur Empfehlungen geben, oder?

Von Reybrouck: Im Moment sind es Empfehlungen. In Ost-Belgien ergab der Bürgerdialog, dass man die Qualität der Altersheime unbedingt anheben sollte. Dafür hat der Bürgerrat Vorschläge ausgearbeitet, die die Politik umsetzen soll. Bindend ist das nicht, aber ein Anfang. In Paris kommt es sogar zu neuen Gesetzen, die von BürgerInnen initiiert werden.

taz: In gewisser Weise erfüllen Meinungsumfragen dies heute ja auch schon: Im Positiven wie im Negativen ermitteln sie, was die Bürger denken und die Politik kann sich danach ausrichten oder nicht.

Van Reybrouck: Aber bei den Bürgerräten geht es um aktive Beteiligung und Dialog, eine Verschränkung der Basis mit selber überlegten und umzusetzenden Inhalten. Das ist etwas anderes, als mediale Stimmungen oder Meinungen aufzugreifen. Habermas hat völlig recht, eine demokratische Gesellschaft braucht einen herrschaftsfreien Dialog, in dem die Bürger mehr sind als Wähler und Wählerinnen. Eine Meinungsumfrage ist nicht die klügste Methode, da sie die Themen vorgibt. Viel interessanter ist es, im Losverfahren ausgewählte Räte selber denken und gemeinsam etwas erlernen zu lassen. Sie sollen selber bestimmen, was die Themen sind und für eigene Entscheidungen verantwortlich sein.

taz: Auf die Bevölkerungsgröße umgerechnet, verursacht Saudi Arabien vor Russland und Kanada den größten CO2-Ausstoß pro Kopf weltweit. Von der nationalen Gesamtmenge her gerechnet liegt China deutlich etwa vor den USA, Indien, Russland und der Europäischen Union. Wie wollen Sie autokratisch regierte Staaten wie Russland oder China dazu bewegen, basisdemokratische Klimaparlamente zu akzeptieren? Ist das nicht sehr utopisch?

Van Reybrouck: Das ist völlig utopisch. Aber der Kampf für das Frauenstimmrecht begann auch mal als Utopie. Auch was Immanuel Kant über den „Ewigen Frieden“ und eine Föderation unabhängiger Staaten geschrieben hat, kam zwei Jahrhunderte zu früh. Doch die Europäische Union ist nun die Realisierung dieser Idee. Heutzutage verursacht China den größten Ausstoß, aber wenn man historisch rechnet, waren es die USA. Und wenn man die koloniale Vergangenheit hinzunimmt, muss man die Niederlande pro Kopf zu den größten Verursachern zählen.

taz: Die Industrienationen des Nordens sind historisch betrachtet im Minus. Heißt das, dass jetzt China oder afrikanische Staaten damit eine nachholende Entwicklung in der Umweltverschmutzung beanspruchen können, bis sie den Gesamt-CO2-Ausstoß des Nordens eingeholt haben?

Van Reybrouck: Ich gehe davon aus, dass nicht alle die gleiche Entwicklung durchlaufen müssen. In vielen Ländern Afrikas gab es zum Beispiel kein ausgebautes Festnetz zum Telefonieren und man ist gleich auf mobile Übertragung gegangen. Natürlich haben Länder wie Kongo ein Recht auf Entwicklung. Und natürlich wird dabei eine gewisse Menge CO2 anfallen. Es gibt jedoch kein lineares Entwicklungsmodell, es wird sich nicht alles negativ wiederholen. Im Januar, nach der COP in Belém, wird zum ersten Mal ein Weltbürgerrat mit dabei sein, also nicht nur Diplomaten und Lobbyisten. Mal sehen, was einfache Bürger und Bürgerinnen sagen, wofür man das noch vorhandene CO2-Budget nutzen sollte.

taz: Glauben Sie wirklich, direktere Formen der demokratischen Teilhabe sind weniger manipulierbar und störanfällig als die der repräsentativen?

Van Reybrouck: Für fossile Lobbyisten wird es sowieso viel schwieriger, eine Bürgerversammlung zu beeinflussen. Wie gesagt, wir haben planetarische Probleme, jetzt müssen wir planetarische Instrumente entwickeln. In Belgien sehe ich, wie wir jedes Jahr zwei Prozent der Leute verlieren, die nicht mehr an die Demokratie glauben. Oft junge Männer, niedrig ausgebildet. Bürgerräte als Ergänzung zu den Parteienparlamenten sind eine unelitäre Möglichkeit, sich aktiv an der Demokratie zu beteiligen.

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