piwik no script img

Historiker über das MittelmeerEine Utopie der Vielfalt

Das Mittelmeer zeigt, wie Unterschiede uns voranbringen und uns Grenzen überwinden lassen. Auf lange Sicht muss Europa also die Vielfalt fördern und zulassen.

Muss wieder zum Zentrum werden: Das Mittelmeer (hier bei Vernazza, Italien) Bild: Healifix / photocase.com

Das Mittelmeer ist derzeit zerrissen, zerstückelt und zerbrochen. Dabei war das Wesen des Mittelmeers in den vergangenen Jahrhunderten, ja Jahrtausenden die meiste Zeit ein anderes, ein integratives. Nur in den, historisch betrachtet, seltenen Phasen des Ausschlusses, bedingt durch politische und ökonomische Spannungen, verlor es seinen integrativen Charakter.

Auf der Suche nach einer Lösung ihrer ökonomischen Probleme schauen die Länder an den nördlichen Küsten des Mittelmeers heute auf Brüssel oder Berlin. Sie kehren ihrem Meer den Rücken zu und damit ihrer Berufung, die mindestens so sehr im Mittelmeer liegt wie in Europa. Es ist also Zeit, diesem Meer seine historische Rolle zurückzugeben: als Ort im Zentrum der globalen Ökonomie, Politik und Kultur.

Das Mittelmeer hatte in seiner ganzen Geschichte immer ein großes ökonomisches Potenzial. In den integrativen Zeiten war und ist die Summe seiner Teile beeindruckend. So erreichten die antiken Römer etwas, das weder vorher noch nachher jemals gelang: die politische Kontrolle über das gesamte Mittelmeer.

Der Autor

David Abulafia ist Professor für Geschichte in Cambridge, England. Sein aktuelles Buch bei S. Fischer: „Das Mittelmeer. Eine Biografie“.

Zwischen den Küsten herrschte reger Verkehr, was dazu führte, dass sich ethnische, religiöse und soziale Grenzen auflösten, vor allem in Alexandria oder Rom. Auch in späteren Jahrhunderten waren die Städte an den Rändern des Mittelmeers Orte, in denen Menschen verschiedener ethnischer und religiöser Identitäten zusammenlebten – Juden, Christen und Muslime.

Geteilt mit der Dekolonisierung

Im 19. Jahrhundert schuf die Kolonisierung der südlichen Küsten durch die Europäer ein sehr enges, aber sehr unsymmetrisches Verhältnis zwischen dem Norden und dem Süden. Doch mit der Dekolonisierung wurden die Probleme nicht gelöst, mit denen sich die daraus entstandenen neuen Länder konfrontiert sahen. Das Mittelmeer war von nun an in nördliche und südliche Zonen geteilt, die weitgehend getrennt voneinander agierten.

Keinesfalls sollen mit dieser Feststellung die Taten der Kolonisatoren verteidigt werden, die besonders in Algerien äußerst brutal und kontraproduktiv waren. Ein rabiater Nationalismus hatte bereits im frühen 20. Jahrhundert mit der Zerstörung des Mittelmeers begonnen. Jene Orte, die einst für die Begegnung der Kulturen, Religion und Menschen gefeiert wurden, degradierten zu monochromen Städten, die ausschließlich von der Mehrheitsbevölkerung des Hinterlandes bewohnt wurden.

Mit dem Bevölkerungsaustausch der 1920er Jahre zwischen Griechen, Türken und Armeniern begannen ethnische Gruppen ihre Reviere abzustecken, um die herum Menschen und religiöse Gruppen rangiert wurden. Ein Prozess, der anhält. Heute beobachten wir ihn in Syrien als Auswanderung von Christen.

Instabilität auch im Norden

taz am Wochenende

Was kommt 2014? Die taz wagt den Blick in die Zukunft: In der taz.am wochenende vom 28./29. Dezember 2013 . Fabian Hinrichs wird „Tatort“-Kommissar, der Manhattan zum In-Getränk und Drohnen alltäglich. Außerdem: Prominente erzählen, was sich ändern muss. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Der Kampf um Stabilität, Wohlstand und Demokratie im islamischen Mittelmeer wird langwierig sein. Aber Algerien, Tunesien und Libyen besitzen ausreichend Ressourcen, um ihre Städte und das Leben ihrer Bewohner so transformieren zu können, wie es auch die Golfstaaten getan haben. Unmöglich, den Ausgang des Arabischen Frühlings vorherzusagen. Hoffen kann man nur, dass eine bessere Zukunft am Mittelmeer ohne den massenhaften Bau von Shopping-Malls wie in den Golfstaaten bewerkstelligt wird.

Instabil aber sind nicht nur die südlichen Mittelmeeranrainer. Weil immer mehr Flüchtlinge vor Verfolgung oder aus ökonomischer Not fliehen und an den Küsten Italiens, Spaniens und anderer EU-Länder stranden, wirkt sich diese Instabilität auch auf die nördlichen Anrainer aus. Auf lange Sicht kann Europa also gar nicht anders, als wieder jene gemischten Gesellschaften des alten Mittelmeers zu fördern und zuzulassen, auf die man historisch so stolz sein kann. Städte wie Barcelona und Marseille lernen längst, wie eine urbane Gemeinschaft Menschen mit verschiedensten Hintergründen integriert und organisiert.

Bedauerlich ist, dass Angst und Vorurteile diesem neuerlichen Prozess der kulturellen Integration im Wege stehen. Diese Vorurteile finden sich unter einer Minderheit der Europäer, die die Vielfalt fürchtet, und unter der Minderheit der Migranten, die sich im religiösen Fundamentalismus einmauern. Eine Utopie des Mittelmeers besteht aber darin, die Differenz als Wert zu schätzen, von ihr zu lernen.

Es fehlt ein Konzept

In all der Differenz gibt es dringende Fragen, die von allen mediterranen Nationen gemeinsam gestellt werden, insbesondere was Migration und die Förderung des Handels zwischen EU und Nicht-EU-Ländern betrifft.

Wahr ist, dass es Versuche gab, die Länder des Mittelmeers in einem losen Staatenbund zusammenzubinden. Ungeachtet der politischen Differenzen sollen in der „Mittelmeerunion“ gemeinsame Probleme angegangen werden. Diese Idee von der „Mittelmeerunion“ ist allerdings in ihrem jetzigen Zustand tatsächlich mehr eine Idee, mehr eine Wunschvorstellung als ein ausgearbeitetes Konzept, das so praktizierbar wäre.

Ein weiteres Element in einer Utopie vom Mittelmeer wäre tatsächlich ein runder Tisch, an dem Israel, die Palästinenser und die arabischen Staaten sitzen und ihre gemeinsamen Probleme ernsthaft und konstruktiv diskutieren. Die Grundlage aber für eine solche Utopie ist das Vertrauen – ob zwischen Israel und den Palästinensern oder zwischen Türken und Griechen auf Zypern. In einem utopischen Mittelmeer würden sich diese Spannungen auflösen, auch wenn es alles andere als leicht fällt, bei diesem Gedanken optimistisch zu sein.

Die Umwelt muss geschützt werden

Um die Utopie lebbar zu machen, gibt es noch eine Bedingung: den Schutz der maritimen Umwelt.

Wenn das Mittelmeer weiter als grenzenlose Lebensmittel-Ressource und gleichzeitig als riesengroße Müllhalde behandelt wird, geht es verloren. Schon jetzt erlebt es einen katastrophalen Wandel durch Überfischung, dem Einleiten von Abwasser und den riesigen Mengen an Plastik, an denen das Meer und die Tiere ersticken. Die Nahrungskette wurde unterbrochen und wir sehen das Ergebnis in den kleinen Mengen Fisch, die das Mittelmeer nur noch hergibt.

Als größtenteils geschlossener Raum ist dieses Meer von dem globalen Missbrauch der Meere am heftigsten betroffen. Will man die Utopie vom Mittelmeer erhalten, wird man die Bedürfnisse künftiger Generationen achten und dem Meer und seinen Einwohnern Zeit geben müssen, sich von dem Schaden zu erholen, den wir ihnen angetan haben.

Die Zukunft des Mittelmeers liegt also in den Händen der Leute, die an seinen Küsten und auf seinen Inseln leben, aber auch in den Händen unser aller, die sich um die Zerstörung des Mittelmeers Sorgen machen. Und es gibt nur einen Weg, diese Zerstörung aufzuhalten: die verlorene Utopie des Mittelmeers wiederherzustellen. Das bedeutet, dem Mediterranen wieder seinen historischen Platz zurückzugeben, als Treffpunkt von Kulturen und Menschen, als Zentrum der Geschichte der Menschheit.

Aus dem Englischen übersetzt von Doris Akrap

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

16 Kommentare

 / 
  • Enttäuschend klischeebeladener Artikel, da muss ich mir noch mal überlegen, ob ich Abulafias Buch, das eigentlich auf meiner Leseliste stand, anschauen werde.

  • Einheitsbrei

     

    Vor den Römern waren das selbstständige Völker mit eigener Sprache und Kultur. Selbst die Küche wurde dann weitgehend gleichgeschaltet (soweit dass technisch möglich war).

     

    Wenn man aber mal abseits der Touristenpfade (ich war in jedem Anrainerstaat mindestens ein paar Tage und spreche einige romanische Sprachen), meist im Landesinnere die vorrömischen Errungenschaften probiert, kann man sich ein vorsichtiges Bild machen, was das doch für herrlich eigenständige Leute waren. Zumindest kulinarisch.

     

    Nun, die Eurobefürworter und Freihandelszonengewinnler sehen das sicherlich anders.

     

    Waren das noch Zeiten, als Euromanen sich um die Krümmung der Gurken kümmerten. Heute will man ein Welt- mindestens aber ein Kontinentalreich.

  • Das Mittelmeer ist Sarg und Mülleimer zugleich.

    "Früher fürchtete der Mensch das Meer - heute ist es umgekehrt"

    (Greenpeace)

    • J
      justus
      @vic:

      Früher war alles besser, ist schon klar.

      • @justus:

        Hab falsch zitiert, pardon.

        Bei Greenpeace heißt es "Einst", nicht Früher.

      • @justus:

        Manchmal soll lesen helfen, sagt man.

  • W
    Wolf

    Historiker? Professor? Incroyable!!

  • Ich bin etwas erstaunt, dass bei diesem Artikel die Grundthese einfach nicht stimmt: Das Mittelmeer war durch die Piratengefahr die meiste Zeit in der Geschichte gespalten. Besonders aber in den langen Jahrhunderten des Mittelalters zwischen der Islamisierung Nordafrikas um 700 und 1830 als die Franzosen Algerien eroberten und verwüsteten. Die Küsten des Mittelmeers waren in dieser Zeit aus Angst vor Überfällen außerhalb der befestigten Seestädte nur dünn besiedelt.

  • G
    Gast

    Es wundert mich, dass ein Professor für mittelalterliche Geschichte so einen Artikel schreibt, denn genauso wie das Mittelmeer grundlage für Handel und Wohlstand war, kam mit ihm auch immer wieder ein Feind, der Zerstörung mit sich brachte. Auch ist das Mittelmeer nicht mehr das "Zentrum der Welt", früher wurden Gewürze und Lebensmittel (natürlich auch anderes) gehandelt, dass dort produziert wurde oder eben durch die Karawanen aus Osten dorthin gebracht wurde. Heute aber Bringt niemand mehr Computer aus China, Kleidung aus Bangladesch über den Landweg bis ans Mittelmeer um es dann mit Schiffen nach Europa zu bringen. Das Mittelmeer als Umschlagplatz für Handelsgüter hat nicht mehr die Bedeutung und wird sie wohl auch nicht mehr haben wie in der Vergangenheit. Es wundert mich auch, dass der Autor denkt, im Römischen Reich hätten viele Ethnien friedlich zusammen gelebt, denn das wurde mit Waffengewalt erreicht. Kleinere Aufstände gab es immer wieder. Religiöse Gruppen (Christen) wurden einige Zeit verfolgt und getötet. Die Länder um das Mittelmeer haben sich nicht freiwillig Rom angeschlossen, sondern wurden besetzt. Es gab Sklaven, die meist auch keine Römer waren. Juden wurden im Mittelalter in Europa auch immer wieder angefeindet. Die Kreuzüge waren auch nicht gerade das, was man friedliches nebeneinander Leben verschiedener Religionenen nennt usw.

  • G
    Gast

    "in Syrien als Auswanderung von Christen"

    Was soll das sein? Ein zynischer Witz?

     

    Europa ist von einer wunderschönen Vielfalt - keine Utopie, schon Realität! Möge es so bleiben ...

     

    Damit wäre schnell Schluss, wenn wir einer Ideologie Raum geben, die Andersdenkende und Anderslebende einengt und bedroht und die man nicht verlassen kann, ohne ermordet zu werden, in der die Hälfte der Menschheit als untergeordnet gilt und deren Auftrag es ist, die ganze Menschheit zu "bekehren".

     

    Um Vielfalt und Toleranz zu erhalten, muss der Intoleranz ein klares Stopp gesetzt werden.

    • 3G
      3784 (Profil gelöscht)
      @Gast:

      @Gast

       

      „Um Vielfalt und Toleranz zu erhalten, muss der Intoleranz ein klares Stopp gesetzt werden“ - ?

       

      Da werden sich die Mittelmeer-Anrainer aber freuen, da nun alles klar und final definiert: Am Nordufer haust die geballte Toleranz, am Südufer die gesammelte Intoleranz.

       

      War da nicht noch ein Satz? – Ach ja: „Um die Intelligenz zu erhalten, bedarf es der Ignoranz“.

       

      Für ernsthaft Interessierte ein Dokument, welches von der EU einst unter den Teppich gekehrt wurde:

       

      http://ec.europa.eu/dgs/policy_advisers/archives/experts_groups/docs/rapport_complet_en.pdf

    • N
      Nobilitatis
      @Gast:

      Auch der Völkermord an Christen wird als "Bevölkerungsaustausch" beschönigt (wo sind die Assyrer?) und am Nationalismus der islamischen Länder sind die "Kolonisatoren" schuld. Die islamischen Eroberungen hat es nicht gegeben? Klippschulniveau.

  • K
    Klarsteller

    Eine solche Utopie ist schön. Dafür sollte man aber die Geschichte nicht so unverfroren fälschen.

  • K
    Klarsteller

    Wer solchen Mist verzapft, hat von Geschichte so viel Ahnung wie ein Esel von Integralrechnung.

    • B
      ben
      @Klarsteller:

      Wer sagt das Esel nicht integral rechnen können ;)

    • U
      Ursula
      @Klarsteller:

      Nichts gegen Esel!