Historiker über Dekolonisierung: „Der Anti-China-Rassismus ist alt“

Schon um 1890 arbeiteten Chinesen für wenig Lohn auf deutschen Dampfschiffen. Auf die Verfolgung in der NS-Zeit folgte der Boom der China-Restaurants.

Eine gruppe chinesischer Heizer um 1912

Streng überwacht: Cinesische Heizer in Hamburg vor der Polizeikamera, 1912 Foto: Gustav Roscher, Großstadtpolizei, Hamburg 1912, S. 400

taz: Herr Amenda, warum muss sich Hamburg auch in puncto China dekolonisieren?

Lars Amenda: Weil das schon aus historischen Gründen notwendig ist. Hamburg hatte lange recht enge Beziehungen zu China. Die standen zwar nicht direkt im Zeichen kolonialer Herrschaft – bis auf die 1897 gegründete Kolonie in Qingdao, die aber keine direkten Auswirkungen auf Hamburg hatte. Aber die vermittelte Seite des Kolonialismus war in Hamburg in der Schifffahrt deutlich zu sehen: durch die Arbeit chinesischer Seeleute auf deutschen Dampfschiffen.

Das Deutsche Kaiserreich hatte Qingdao als Pachtgebiet für 99 Jahre dem chinesischen Staat abgepresst. Was hatte man damit vor?

Dort sollte ein Flottenstützpunkt entstehen, weshalb man den Hafen ausbaute. Qingdao sollte eine florierende, weltweit wichtige Drehscheibe werden – was aber scheiterte. Die einzige lukrative deutsche Firma war die Germania Brauerei, deren „Tsingtao-Bier“ es heute noch gibt. Allerdings gab es in Qingdao eine städtebauliche Segregation. Chinesische Arbeiter wohnten in anderen Vierteln als die deutschen Kolonialherrn.

Welchen Status hatten die chinesischen Arbeiter?

Auf Chinesen ist durchaus rassistisch herabgeblickt worden. Andererseits galt China hierzulande als alte Hochkultur, die allerdings damals, im 19. Jahrhundert, stagniere und rückständig sei. In diesem Zusammenhang hat sich für asiatische Arbeiter der Begriff des „Kuli“ eingebürgert, der angeblich wenig zu essen brauche und eine billige, gefügige Arbeitskraft sei.

Und zwar als Heizer auf Dampfschiffen. Wie fing das an?

Das entwickelte sich im Zuge der Umwandlung von der Segel- zur Dampfschifffahrt um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Da fiel unter anderem die Tätigkeit des Heizers vor den Kesseln an. Das war eine sehr anstrengende Arbeit bei unglaublich hohen Temperaturen. Da man fand, diese Arbeit sei Deutschen nicht zuzumuten, begannen – nach nordamerikanischen und britischen – auch Reedereien wie die Hapag in Hamburg und der Bremer Norddeutsche Lloyd um 1890, „farbige Seeleute“, wie man sie nannte, anzuheuern. Die größte Gruppe waren Chinesen, die teils nur ein Drittel der üblichen Heuer bekamen und aus dieser biologistischen Perspektive als „besser geeignet“ für hohe Temperaturen galten.

Warum heuerten sie trotzdem an?

Weil der Lohn aus chinesischer Sicht vergleichsweise hoch war und man die Familie unterstützen, vielleicht auch nach ein paar Jahren mit dem Geld eine Existenz in China aufbauen wollte.

Bekamen die Seeleute Schutzkleidung, waren sie versichert?

Nein. Zwar wurde damals gerade die Sozialversicherung eingeführt, aber die maritime Arbeit war nicht mit erfasst, sodass die Reedereien daran sparten und für chinesische Seeleute keine Sozialabgaben zahlten. Zwar führte die Seeleute-Gewerkschaft eine Debatte über Arbeitssicherheit, aber das kam nicht unbedingt „farbigen“ Seeleuten zugute. Denn auch Sozialdemokratie arbeitete teils mit rassistischen Untertönen.

Jg. 1970, Historiker, hat gemeinsam mit der Journalistin Haifen Nan im Zuge des Projekts „Hamburg dekolonisieren“ die Geschichte chinesischer Communitys erforscht und eine Bildungsbroschüre erstellt.

Inwiefern beförderte die Hamburger Cholera-Epidemie von 1892 den Rassismus?

Die Epidemie brachte einerseits eine Professionalisierung des Medizinwesens, andererseits eine polizeiliche Überwachung des Hamburger Hafens, weil sowohl die jüdischen Auswanderer als auch die „farbigen Seeleute“ als hygienische Gefahr ausgemacht wurden. Schon 1891 wurde die Institution des Hafenarztes eingeführt und asiatische Crews gezielt überwacht. Die Polizei hat eine Art koloniales Hafenregime errichtet, um chinesische Einwanderung zu verhindern, indem sie zum Beispiel Anträge auf „Boarding Houses“ für chinesische Seeleute konsequent ablehnte.

Und wie wurden die Seeleute konkret überwacht?

Für die Zeit des Ersten Weltkriegs wissen wir, dass die Seeleute – in einer Mischung aus hygienischer Überwachung beziehungsweise Isolation und Kontrolle – zentral auf Schiffen im Hamburger Hafen untergebracht wurden. Als Japan im August 1914 Deutschland den Krieg erklärte, kam hinzu, dass Chinesen auch an Land oft mit dem „Feind“ Japan verwechselt und belästigt wurden.

Trotz alldem entstand in den 1920er-Jahren das „Chinesenviertel“ in St. Pauli. Warum?

Das seit 1925 von den Hamburgern so bezeichnete Viertel entstand aufgrund der veränderten Konstellation nach Ende des Ersten Weltkriegs. Aus Sicht Chinas war Deutschland vom kolonialen Makel befreit, die einstige Kolonie Qingdao japanisch besetzt. Daher unterzeichneten China und Deutschland 1921 einen Vertrag, der wechselseitig die freie wirtschaftliche Betätigung ihrer Staatsangehörigen erlaubte. Infolgedessen kamen immer mehr chinesische Seeleute aus englischen Hafenstädten nach Hamburg und erwarben ein Geschäft oder Lokal. So entstand in St. Pauli das „Chinesenviertel“.

Wieso konnten die unterbezahlten Seeleute Lokale kaufen?

Aufgrund der Inflation in Deutschland, die 1923 auf dem Höhepunkt war. Da waren alle, die stabile ausländische Währung hatten, vergleichsweise vermögend. Und für chinesische Seeleute war es verlockend, sich selbstständig zu machen und der auszehrenden Arbeit des Heizers zu entkommen.

Und warum verschärfte man 1925 das Hafengesetz?

In dem Moment, wo die Hamburger Bevölkerung ein vermeintliches „Chinesenviertel“ identifizierte, übte die Hamburger Polizei Druck auf den Senat aus, das Hafengesetz zu verschärfen, um Einwanderung unattraktiv zu machen. Vor allem ging es um Kontrollen. Bis dato war der jeweilige Schiffskapitän für den Landgang der Seeleute zuständig. Das verschärfte Hafengesetz übertrug diese Zuständigkeit an die Hafenpolizei, der Namenslisten vorgelegt werden mussten. Wobei das Auswärtige Amt die Hamburger Polizei anwies, diskret vorzugehen. Ausweisungen von Chinesen seien in Ordnung, hieß es, aber bitte keine Massenausweisungen, damit es keine Proteste aus China gäbe.

Wie wurden die Ausweisungen begründet?

Mit dem sehr dehnbaren, schon in den 1920ern als zu schwammig kritisierten Begriff des „lästigen Ausländers“. Für dieses Stigma waren auch Gerüchte um „Opiumhöhlen“ verantwortlich, überhaupt die Vermutung eines notorisch kriminellen chinesischen Milieus – was natürlich nicht der Realität entsprach. Es ist zwar erweisen, dass auch Opium geraucht wurde. Aber das stellte keine Gefahr für die Hamburger Bevölkerung dar.

Überhaupt war die chinesische Migration in den 1920ern überschaubar, oder?

Ja. Auch war es eine sehr flüchtige, zunächst aufgrund der Berufe rein männliche Migration, die nicht unbedingt auf dauerhafte Einwanderung ausgerichtet war.

Wie erging es der chinesischen Community in der NS-Zeit?

Im Chinesenviertel änderte sich zunächst nichts. Allerdings wurden nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 alle chinesischen Heizer entlassen. Da ist entweder Druck ausgeübt worden oder die Reedereien haben es in vorauseilendem Gehorsam getan. Lediglich die (wenigen) chinesischen Wäscher auf den Schiffen blieben. Auf deren Unentbehrlichkeit haben die Reedereien 1933 gepocht, weil deutsche Seeleute diese Arbeit nicht verrichten wollten.

Wie hat China auf die Entlassung der Heizer reagiert?

Die Regierung hat vehement protestiert und Konsequenzen für Deutsche in China angedroht. Denn da alle 600 chinesischen Heizer entlassen wurden, war klar, dass es eine Diskriminierung aus rassistischen Motiven war.

Wie entwickelte sich das „Chinesenviertel“?

Das NS-Regime verschärfte 1936/37 die Devisenpolitik, weil Deutschland Rohstoff für die Aufrüstung brauchte. Jede ausländische Währung musste nun zur Bank gebracht werden. Deshalb gab es auch im „Chinesenviertel“ immer wieder Razzien durch Polizei und Zoll, um Devisen aufzuspüren. Denn in einem Hafenviertel wie St. Pauli war es Usus, dass Seeleute mit ausländischer Währung zahlten.

Fahndete man auch nach binationalen Partnerschaften?

Es galt durchaus als „Schande“ für eine deutsche Frau, mit einem chinesischen Mann zusammen zu sein. Da entstanden Begriffe wie „Chinesenliebchen“; auch gab es den Vorwurf der Prostitution. Wir wissen auch von Gestapo-Beamten, die deutsche Partnerinnen chinesischer Männer ins KZ eingewiesen haben.

Und worauf zielte die „Chinesenaktion“?

Der Vorwand für diese Aktion vom 13. Mai 1944 war angebliche Feindbegünstigung, weil Chinesen aus Hamburg über die Türkei wieder in britische Dienste gelangt seien. Der tatsächliche Hintergrund war ein rassistischer. Maßgeblich beteiligt war der Kripobeamte Erich Hanisch, der von 1941 bis 1943 im besetzen Polen Deportationen der jüdischen Bevölkerung organisiert hatte. Zurück in Hamburg, tyrannisierte er ZwangsarbeiterInnen und, im Zuge der „Chinesenaktion“, die chinesische Community. Dabei wurden 29 Männer verhaftet, im Gestapo-Gefängnis Fuhlsbüttel misshandelt und ins „Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg“ gebracht. 17 Chinesen starben.

Ist Erich Hanisch dafür belangt worden?

Nein. Er hat sich 1948 im Internierungslager Neuengamme durch Suizid entzogen. Er hätte am nächsten Tag nach Polen überstellt und für seine Verbrechen angeklagt werden sollen.

Wurden die Überlebenden der „Chinesenaktion“ entschädigt?

Nein. Dabei haben sie noch bis in die 1960er Jahre Anträge auf Wiedergutmachung und die symbolische Anerkennung der NS-Verfolgung gestellt. Beides unterblieb. Spitzfindig behaupteten deutsche Gerichte, die Form der „Chinesenaktion“ – Razzia, Internierung, Lagerhaft – sei zwar nationalsozialistisch gewesen, nicht aber der „Inhalt“: Es sei keine rassistische Verfolgung gewesen. Das war wie ein zweiter Schlag für die chinesische Community – weshalb das Thema dort lange ein Tabu war. Erst in den 1980er-Jahren erschienen Artikel und Bücher. 2012 entstand ein Gedenkstein in St. Pauli und 2021 wurden 13 Stolpersteine für Opfer der „Chinesenaktion“ verlegt.

Wie passte eigentlich der Nachkriegs-Boom der China-Restaurants zum fortbestehenden Rassismus?

Insofern, als auch die Hamburger im Zuge des „Wirtschaftswunders“ in den 1960er-Jahren wohlhabender wurden. Dazu gehörte auch der kulinarische „Kurzurlaub“ in einem ausländischen Spezialitätenrestaurant. Besonders die chinesischen Lokale bedienten den Wunsch nach unbekanntem Essen – zumal sie nicht allzu authentisch waren und das Essen an den westdeutschen Geschmack anpassten.

Sprechen wir noch über den „Coronarassismus“. Zufällig entstand das Virus in China, weshalb asiatisch aussehende Menschen oft angefeindet wurden. Aber lebt da wirklich der Kolonialrassismus auf?

Natürlich hat die Gleichsetzung des Virus mit China – US-Präsident Donald Trump sprach konsequent vom „China Virus“ – etwas Willkürliches. Trotzdem hat der rassistische Blick auf China eine lange Geschichte und es gibt Kontinuitäten, wie etwa das Stereotyp der „Gelben Gefahr“ zeigt. Da schlummert schon einiges unter der Oberfläche.

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