Historiker Rainer Hering zur NS-Schulpolitik: "Kein expliziter Widerstand"

Hamburgs Lehrer hatten während der Nazi-Zeit mehr Spielraum als vermutet. Das zeigt das erste Standardwerk zu Hamburgs Schulpolitik im "Dritten Reich".

Lehrstoff Hitlergruß: Turnunterricht an der Lernbehindertenschule Altona. Bild: Denkmalschutzamt/Bildarchiv

taz: Herr Hering, erst jetzt erscheint ein Band zur Hamburger Schulpolitik im "Dritten Reich", den Sie anstelle des 2008 verstorbenen Uwe Schmidt herausgeben. Warum passiert das so spät?

Rainer Hering: In den 50er Jahren hat sich noch kaum jemand mit der NS-Schulgeschichte beschäftigt. Das begann erst in den 70ern und 80ern, als vor allem Schicksale von Opfern aufgearbeitet wurden. Diese Forschungsansätze führten aber noch nicht zu einer Synthese. Die hat erst Uwe Schmidt erstellt, der in intensivem Quellenstudium vieles zutage gefördert und auf 1.000 Seiten festgehalten hat.

War die NS-Schulpolitik hier besonders rigide?

Nein. Hamburg war weder ein Mustergau noch besonders widerständig. Es gab eine Mischung aus Anpassung, Überzeugung und einer gewissen Widerständigkeit. Spezifisch ist allerdings, dass sich Reichsstatthalter Karl Kaufmann auch reichsweit für hamburgische Interessen einsetzte. Er hat verhindert, dass das von Hitler avisierte österreichische Hauptschulmodell die hiesige Volksschule ablöste.

Wie genau haben die Machthaber die Schulpolitik gesteuert?

Ab 1933 gab es zunächst personelle Veränderungen: Jüdische sowie demokratisch gesonnene Lehrer und Direktoren wurden durch Nazis ersetzt. Die Lehrpläne wurden verändert. Und der Einfluss der Hitler-Jugend wuchs. Teils saßen sogar HJ-Vertreter in Zeugniskonferenzen.

Ließ das Regime neue Schulbücher drucken?

Zum Teil ja, zum Teil hat man vorhandene verändert. Es gab aber auch Kontinuitätslinien: Hamburgs Landesschulrat Wilhelm Schulz etwa war einerseits Nazi, andererseits überzeugter Reformpädagoge. Das führte dazu, dass Hamburg reformpädagogische Ansätze der 20er Jahre zunächst beibehielt.

Der Historiker und Archivar leitet seit 2006 das Landesarchiv Schleswig-Holstein. An der Universität Hamburg lehrt er Geschichte und Archivwissenschaft.

Welche Fächer waren von der Indoktrinierung betroffen?

Alle. Selbst in Mathematik konnte man die Schüler Dinge ausrechnen lassen wie: Was kostet ein geistig Behinderter den Staat täglich und wie viele Darlehen für kinderreiche Familien könnte man davon finanzieren?

War der Unterricht zu 100 Prozent linientreu?

Im Rahmen der formalen Linientreue besaßen die Lehrenden Spielräume - wenn sie wollten. Wenn jemand "Rassenkunde" unterrichtete, konnte man damit rechnen, dass er die Absurdität der Schädelvermessung vorführte; Loki Schmidt berichtet in ihren Erinnerungen davon.

Welche Sanktionen trafen systemkritische Lehrer?

Direktoren konnten eine Disziplinarverfahren bekommen, versetzt, heruntergestuft oder entlassen werden. Unter den Lehrern gab es allerdings etliche, die ermordet wurden. Einer von ihnen war der Sozialist und Gehörlosen-Lehrer Alfred Schär.

Es wurde kein Hamburger Direktor deportiert?

Abgesehen von den "nicht-arischen" Kollegen nicht. Das hängt damit zusammen, dass es auf der Leitungsebene keinen expliziten Widerstand gab, sondern allenfalls implizite Verweigerung.

Was passierte mit regimekritischen Schülern?

Das hing vom Schulleiter beziehungsweise der Schulbehörde ab. Die Swing-Jugend etwa war eigentlich unpolitisch. Aber Albert Henze, der ab 1942 die Hamburger Schulverwaltung leitete, verfolgte sie. Henze ließ übrigens auch Schulräte und Lehrer bespitzeln.

Wie effektiv ist die Lehrerschaft entnazifiziert worden?

Es gab formale Verfahren gegen Personen, die für einige Jahre entlassen wurden. Albert Henze wurde für drei Jahre interniert, hat danach aber 22 Jahre lang in Lübeck unterrichtet. Spätestens 1948/49 waren über 90 Prozent der Lehrenden wieder im Amt.

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