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Hintergründe des Umsturzes in MadagaskarHitzige Stimmung überall am Indischen Ozean

Unmut über schlechte Politik nimmt in Zeiten des Klimawandels zu, Regierungen verlieren die Macht. In Madagaskar will Frankreich das Geschehen lenken.

Madagaskars neue Machthaber vor dem Präsidentenpalast in Antananarivo, Dienstag. In der Mitte: Oberst Michael Randrianirina Foto: Brian Inganga/ap/dpa
Dominic Johnson

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Dominic Johnson aus Antananarivo

taz | Als Delegierte aus 15 Anrainerstaaten des Indischen Ozeans, von Indien bis Südafrika, am Montag auf der französischen Insel Réunion zum viertägigen Workshop der IORA (Indian Ocean Rim Association) über „Stärkung des Umgangs mit Risiken in Katastrophen“ zusammenkamen, ahnten sie nicht, welche Risiken gerade ganz echt um sie herum dräuten. Madagaskars Präsident Andry Rajoelina, bedrängt von einer Revolte der Jugend, war am Vortag von Frankreichs Militär aus seinem Präsidentenpalast geholt und nach Réunion gebracht worden, auf dem Weg zum Exil in Dubai.

Möglicherweise waren manche IORA-Katastrophenschützer bei ihrer Einreise am Flughafen Roland-Garros auf Réunion am Sonntag ungewollt Zeugen der hochgeheimen Flucht, zu der sich Rajoelina erst am späten Montagabend in einem Internetvideo bekannte. Um das Machtvakuum in Madagaskar zu füllen, trat am späten Dienstag Oberst Michael Randrianirina mit vier Kameraden vor die Kameras und erklärte Rajoelina für abgesetzt.

Bei der Eröffnung des IORA-Gipfels am Montag verlor Réunions französischer Präfekt Patrice Latron über die dramatischen Ereignisse kein Wort. Er betonte seine drei Regeln des Risikomanagements: antizipieren, indem menschliche und materielle Ressourcen rechtzeitig verfügbar sind; reagieren, indem direkt in den ersten Stunden einer Krise gehandelt wird; koordinieren, indem die Länder des Indischen Ozeans sich eng mit Paris absprechen.

Bezogen auf den Umsturz in Madagaskar, ergeben diese technischen Hinweise im Nachhinein eine außenpolitische Positionierung. Frankreich sieht sich als Führungsmacht im westlichen Indischen Ozean in allen Bereichen, von humanitärer Hilfe bei Wirbelstürmen bis zur Regelung politischer Erschütterungen. Nachdem er den IORA-Workshop eröffnet hatte, wurde Latron am Montag in einem TV-Interview zur Lage im 900 Kilometer entfernten Madagaskar mit der Aussage zitiert, man sei „wachsam“ und es gebe „Pläne für den Fall, dass etwas passiert“.

„Exfiltration“ als Risikomanagement

Erst in Reaktion auf diese versteckte Ankündigung einer Militärintervention und erste französische Meldungen über Rajoelinas Flucht meldete sich vom Rand des Gaza-Gipfels in Ägypten Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu Wort. Er werde nichts bestätigen, warnte er, aber seine „oberste Priorität“ sei die „Freundschaft Frankreichs mit dem madegassischen Volk“. Frankreich, so scheint es, hat den geräuschlosen Machtwechsel in Madagaskar nicht nur geduldet, sondern befördert – Risikomanagement im Sinne von Präfekt Latron.

Denn Rajoelinas „Exfiltration“ deeskalierte die sich zuspitzende Konfrontation in Madagaskar, seit Oberst Randrianirina, Kommandant einer Eliteeinheit, sich am Samstag in einer öffentlichen Erklärung gegen den Präsidenten gestellt hatte. Damit es nicht aussieht wie ein Putsch, auf den internationale Strafmaßnahmen folgen müssten, wurde eine Kulisse der Legalität errichtet.

Madagaskars Parlament trat am Dienstag zusammen und setzte Rajoelina ab. Der dekretierte aus Dubai heraus die Auflösung des Parlaments. Das Parlament rief das Verfassungsgericht an. Dieses stellte fest, wegen Rajoelinas Abgang sei das oberste Staatsamt vakant, und bat „die zuständigen militärischen Autoritäten, verkörpert durch Oberst Michael Randrianirina, zur Wahrnehmung der Funktionen des Staatschefs“. Der Oberst hat nun das Parlament wieder eingesetzt und alle anderen Institutionen suspendiert.

Madagaskar, eine einzigartige Insel

Madagaskar ist ein Unikum: die älteste Insel der Welt seit der Separation von Indiens Landmasse vor 90 Millionen Jahren, mit einer entsprechend einzigartigen Natur. Zwei Prozent aller Mangroven und Korallenriffe der Welt befinden sich an Madagaskars Küsten und trennen einige der fischreichsten Gewässer der Erde von einem Land von Vanille und Nelken, mit seltenen Mineralien unter der Erde und Regenwäldern voller Tiere und Pflanzen, die es sonst nirgends gibt.

Kaum ein Land auf der Welt hat solche natürlichen Reichtümer, kaum eines geht so sorglos damit um. In den letzten Jahrzehnten hat skrupelloser Raubbau Madagaskar verwüstet. Weite Landstriche sind nur noch Steppe, das Gros der Bevölkerung lebt in bitterer Armut. Rajoelina wurde als Präsident zum reichsten Mann Madagaskars, während sein Volk verelendet.

Dass Madagaskar die größten Dürren und Hungersnöte seit Jahrzehnten erleide, sei nicht seine Schuld, sagte Rajoelina erst vor einem Jahr. „Fakten außerhalb unseres Willens“ seien der Grund, warum die Menschen weder Wasser noch Strom hätten, erklärte er und behauptete, er wolle „dem Volk die Wahrheit sagen“.

Lage von Madagaskar im Indischen Ozean Infografik: taz

Es ist nur die halbe Wahrheit. Fakt ist: Die Region des Indischen Ozeans erlebt tatsächlich den globalen Klimawandel härter als andere Weltregionen. „Viel schneller, als wir denken“, erwärmt sich das Meereswasser, analysierte vergangenes Jahr das Indische Institut für Tropische Meteorologie in einer Studie: das Tempo der Meereserwärmung sei dabei, sich zu verdreifachen, von einer Rate von 1,2 Grad pro 100 Jahren im Zeitraum 1950–2020 auf bis zu 3,8 Grad bis Ende dieses Jahrhunderts.

Statt 20 extrem heiße Tage pro Jahr seien dann über 200 zu erwarten und die Mindestwassertemperatur an der Oberfläche werde konstant 28 Grad übersteigen – der Wärmegrad, ab dem Extremwetterereignisse zur Normalität werden.

Dies betrifft direkt zwei Milliarden Einwohner der Küstenregionen des Indischen Ozeans, von Indonesien über Südasien bis Ostafrika. Unter ihnen, warnt die indische Aga-Khan-Stiftung, befindet sich ein Großteil der ärmsten Menschen der Erde.

„Früher gab es in Mosambik alle zwei bis vier Jahre einen Sturm, heute jedes Jahr, und er zerstört alles, was sich die Leute aufbauen, und sie müssen von vorn anfangen“, erläuterte Stiftungsexpertin Apoorva Orza in einem Interview. „Nehmen wir ein Dorf in Indien, das früher 500 Millimeter Regen im Jahr hatte, über das Jahr verteilt. Jetzt fallen die 500 Millimeter in wenigen Tagen, schwemmen die Erde weg, zerstören Ernten.“

Verheerende Zyklone jedes Jahr

Um Madagaskar herum ist das gelebte Realität. Weit über 1.000 Menschen fielen 2019 dem Zyklon „Idai“ zum Opfer, der sich über dem Meer zwischen Mosambik und Madagaskar bildete und nacheinander in beiden Ländern, aber vor allem in Mosambik Verwüstungen anrichtete. Ende 2024 traf der Zyklon Chido frontal die zu Frankreich gehörende Komoreninsel Mayotte; Tausende Tote wurden befürchtet, am Ende 39 geborgen, aber viele Menschen blieben vermisst. Auch dieses Jahr haben Sturmfluten auf Madagaskar mehr Opfer gefordert als die Unruhen der vergangenen Wochen.

Die Bevölkerung gibt sich immer weniger mit der Erklärung zufrieden, der Klimawandel sei schuld und die Regierenden könnten nichts machen. Sie verlangen gerade angesichts der Lage eine Politik, die die Katastrophen nicht noch beschleunigt. Auf den Seychellen wurde am vergangenen Wochenende die Regierung abgewählt – zu den vielen Gründen zählen undurchsichtige Geschäfte mit Investoren aus Katar, die mit einem Luxustourismusprojekt Korallenriffe und Meeresschildkröten gefährden.

2023 und 2024 gab es Erdrutschsiege der bisherigen Opposition auf Mauritius und auf den Malediven. Mauritius hatte 2020 die größten Massenproteste seiner Geschichte erlebt, nachdem ein Öltanker aus Japan nahe zwei Meeresschutzgebieten havarierte.

Der Jugendaufstand in Madagaskar nahm sich jetzt die Jugendproteste in Kenia zum Vorbild, die unter dem Schlagwort „Generation Z“ im Sommer 2024 auf die Straße gingen. Im benachbarten Tansania, wo am 29. Oktober Wahlen ohne ernsthafte Opposition stattfinden, haben vor Kurzem unzufriedene Militärs zum Umsturz aufgerufen. In Mosambik sind islamistische Rebellen im Norden des Landes, wo Frankreich Erdgas fördern will, wieder in Aktion getreten. Die gesamte Region brodelt. Madagaskar zeigt, wohin das führen kann.

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