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■ Hinter dem Ruf nach geschlossenen Heimen verschwinden die Ursachen der Jugenddelinquenz: Armut, Roheit und VernachlässigungGewaltverbot statt Wegsperren

„Mehmet“, „Dennis“ und „Mahmoud“ beherrschen mit ihren Straftatenserien die Medien. Kombiniert mit der wachsenden Zahl von Strafanzeigen gegen Kinder und Jugendliche, wird das Bild einer kriminellen Jugend gezeichnet, der eine unfähige Justiz gegenüberstehe.

Tatsächlich werden die meisten Kinder und Jugendlichen nach ersten Delikten wie Sachbeschädigung oder Ladendiebstahl nicht wieder straffällig. Nur eine kleine Gruppe mausert sich schon mit elf oder zwölf Jahren zu Intensivtätern. Ein beträchtlicher Anteil der Delikte Straßenraub, Kraftfahrzeugdiebstahl und Einbrüche geht auf ihr Konto. Für diesen „harten Kern“ wird der Ruf nach einer härteren Gangart immer lauter.

„Geschlossene Heime“ heißt das Zauberwort. Sozialdemokraten bemänteln ihre jugendpolitische Kehrtwendung, indem sie von „zeitweiliger Intensivbetreuung“ reden, und selbst für Bündnis 90/Die Grünen bildet dies kein Tabu mehr. Tatsächlich gab es solche Heime bereits bis 1991 – mit desaströsen Folgen. Die Rückfallquote der dort Untergebrachten lag bei 90 Prozent. Unter der Käseglocke einer Verwahranstalt war das Einüben eines normalen Lebens unmöglich. Es herrschten Frust und Gewalt, Ausbrüche waren an der Tagesordnung.

Ein neues Kinder- und Jugendrecht rückte danach „Hilfen zur Erziehung“ in den Mittelpunkt: Beratung der Eltern, Formen betreuten Wohnens, sozialtherapeutische Wohngemeinschaften und individuelle Betreuung auffällig gewordener Jugendlicher sollen deren Selbständigkeit und Eigenverantwortung fördern. Weil dies hinter Gittern nicht möglich ist, sieht die Rechtslage eine geschlossene Unterbringung nur noch vor, wenn eine konkrete Gefahr für den Jugendlichen selbst oder für Dritte zu erwarten ist.

Dies hat dazu geführt, daß vielerorts für strafmündige Kinder ab vierzehn Jahre keine Alternative zu Untersuchungshaft oder Haft besteht, wenn von Gerichten angeordnete erzieherische Maßnahmen nicht greifen. Gefängnisse für Jugendliche aber sind Ausbildungsstätten für eine kriminelle Karriere. Und ohne elterliche Genehmigung kann die Justiz Kinder unter vierzehn Jahren nicht in ein Heim einweisen.

Deshalb bedeuten Heimeinweisungen ohne elterliche Einwilligung und geschlossene Heime für Jugendliche nicht zwingend eine Entwicklung hin zum Kinderknast. Als kurzfristige Krisenintervention und als Haft-Alternative sind sie diskussionswürdig. Die öffentliche Debatte suggeriert freilich, geschlossene Heime böten eine Möglichkeit, sich unerwünschter Kids dauerhaft zu entledigen.

Dabei handelt es sich auch beim harten Kern Gewalttätiger nicht um kleine Monster, sondern um verletzbare und verletzte Kinder und Jugendliche, die nie die Chance hatten, eigene Interessen anders als gewalttätig zu artikulieren. Von den Eltern fallengelassen, bindungslos herumvagabundierend, finden sie nur in Cliquen Gleichaltriger Verständnis, Anerkennung und Spaß. Sozialarbeit für Jugendliche kann nicht ausgleichen, was oft schon im Kleinkindalter zerstört wurde.

Das eigentliche Problem hinter der aktuellen Kinder- und Jugenddelinquenz stellt der Lebensalltag von Millionen Kindern und Jugendlichen dar, der von Armut, Vernachlässigung und Roheit geprägt ist. In Deutschland besteht das größte Armutsrisiko darin, ein Kind zu sein. Mittlerweile erhalten über eine Million Kinder Sozialhilfe – gegenüber knapp 288.000 im Jahr 1981. 17 Prozent der unter Siebenjährigen müssen mit durchschnittlich 265 Mark im Monat auskommen. Hilfsorganisationen gehen dazu über, Köche statt Sozialarbeiter einzustellen.

Wichtigste Ursache für die Sozialhilfeabhängigkeit von Kindern bildet die Arbeitslosigkeit der Eltern, gefolgt vom Auseinanderfallen der Familien nach einer Scheidung oder Trennung. Während bei Kindern aus besseren Kreisen der Alltag mit Musikschule, Sport und Ballett fest verplant ist, geht mit der „neuen Armut“ ein gegenläufiges Extrem einher: Fast ein Drittel der ärmeren Kinder und Jugendlichen sind weder in Vereinen aktiv, noch besuchen sie Veranstaltungen. Die Zeit wird mit Video- und Computerspielen und Fernsehen totgeschlagen.

Doch die auf jugendlich getrimmten Soap-operas spiegeln nur die Welt von Mittelschicht- Kids wider, die mit dem Alltag ärmerer Jugendlicher wenig gemein hat. Die Sichtbarkeit und gleichzeitige Unerreichbarkeit eines besseren Lebens mit mehr Konsum und Spaß treibt in die Kriminalität. Was andere haben und ich nicht haben kann, muß ich mir nehmen. Die verbreiteten „Abziehertaten“ entsprechen genau diesem Muster. Die dabei praktizierte Brutalität imitiert den eigenen familiären Alltag. Dies gilt insbesondere für viele ausländische Familien, wo materielle Not, fehlende Erziehungskompetenz und kulturelle Konflikte eine explosive Mischung bilden. Rund ein Drittel der befragten türkischen Jugendlichen berichtete dem niedersächsischen Kriminologen Christian Pfeiffer, daß ihre Eltern aufeinander eindreschen oder die Kinder mit Schlägen traktieren.

Zugleich ist Deutschland im Umgang mit innerfamiliären Problemen immer noch ein Entwicklungsland. Kontaktpersonen für Kinder, die unter familiärer Gewalt leiden, fehlen. Verwandte, Nachbarn und Lehrer wollen sich nicht einmischen. Die Jugendhilfe schaut sich elterliche Verfehlungen oft nur an, ohne einzugreifen. Die Politik ignoriert die Implosion der Familie in der Zweidrittelgesellschaft. Noch immer beurteilt der Bundesgerichtshof elterliche Aggressionen gegen Kinder als Rechtens und damit als richtig. Trotz des Wissens, daß geschlagene Kinder häufig zu Tätern werden, lehnen CDU/CSU eine rechtliche Absage an elterliche Gewalt gegen Kinder als unzumutbaren Eingriff in die Privatsphäre ab. Dabei wäre ein Gewaltverbot in der Erziehung gerade jetzt ein deutliches, präventiv wirksames Signal.

Die aktuellen Forderungen nach Absenkung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre, nach geschlossenen Heimen als Allheilmittel und nach genereller Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende zielen auf eine Rückkehr zur Staatserziehung „problematischer“ Kinder und Jugendlicher in Heimen und Knästen. Dies bildet die Kehrseite einer Auffassung, wonach Erziehung Privatsache ist. Wer diese Entwicklung nicht will, wird – notfalls über rechtliche Anreize – um mehr gesellschaftliche und elterliche Bereitschaft zur Sorgepflicht gegenüber Kindern nicht herumkommen. Harry Kunz

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