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Hineingehen ins Leben

Frau Schmid ist bald 90 Jahre alt – und sie wohnt im Fußballstadion von Basel, in dem auch das Seniorenheim „tertianum“ untergebracht ist. Champions-League-Spieltage sind für sie Festtage

aus Basel TOBIAS SCHÄCHTER

Und dann zieht plötzlich Ole Gunnar Solskjaer auf und davon. 30 Meter sind es noch bis zum Tor und es ist klar: Solskjaer wird sich diese Chance nicht nehmen lassen und das Tor machen. Auch die rund 30.000 Basler wissen das, und so werden die fünf Sekunden, in denen Solskjaer auf und davon sprintet, im Strafraum das Tempo verlangsamt, zuerst den Torhüter ausguckt, sich dann auf den Ball konzentriert und schließlich schießt, zur Folter für ein ganzes Stadion. Die Kugel zischt Zuberbühler durch die Beine – 3:1 für Manchester United, die Entscheidung nach 68 Minuten, der Endstand im Basler St.-Jakob-Stadion.

Frau Schmid kennt Ole Gunnar Solskjaer nicht, auch nicht Ruud van Nistelrooy, den sie nach seinen zwei Treffern und nun sagenhaften 18 Champions-League-Toren in 20 Spielen für Manchester United auf den Sportseiten der Zeitungen in die Weltklasse schreiben werden. Sie kennt auch nicht Christian Gimenez, der das blau-rote Wunder FC Basel nach 33 Sekunden in Führung schoss und den St.-Jakob-Park so zum Beben brachte, dass Frau Schmid sich in ihrem „Wohnzimmer“ erschreckte. Aber in dieser 68. Minute, da weiß Frau Schmid, dass United das Spiel gewonnen hat. Nur wie hoch, darüber ist sie sich noch nicht im Klaren: „Vermutlich muss man froh sein, wenn die Engländer kein Tor mehr schießen. Ach, die armen Basler.“

Frau Schmid macht eine kurze Pause, nippt an ihrer Cola und fährt mit klarer Stimme leise und mahnend mit der Weisheit einer fast 90-Jährigen fort: „Sie dürfen jetzt aber nicht aufgeben – das darf man nie.“ Milly Schmid ist kein Fan des FC Basel, auch kein Fußballfan. Milly Schmid weiß noch nicht einmal, „wie lange ein Match überhaupt geht“. Milly Schmid wohnt eher zufällig im St.-Jakob-Park.

Im März 2001 wurde das alte Basler Stadion, das „Joggeli“, Geschichte. Eine neue moderne Arena, der St.-Jakob-Park, entstand und mit ihm nicht nur ein Fußballstadion, sondern auch ein Shopping Center mit 33 Geschäften sowie zahlreiche Restaurants. Konferenzen können hier abgehalten werden und die Geschäftsstelle des FC Basel ist darun untergebracht. Und seit dem Frühjahr diesen Jahres, und das ist wohl einmalig auf der Welt, beherbergt der St.-Jakob-Park auch ein Seniorenheim. Das „tertianum“ ist eine Einrichtung sowohl für betreutes Wohnen als auch für Pflegebedürftige. 70 Menschen leben im „tertianum“, Milly Schmid ist eine davon. 18 von ihnen saßen am Dienstag im „Joggeliblick“ und erlebten das Spiel des FC Basel gegen Manchester United, die meisten zusammen mit ihren Kindern und Enkeln. 40 Leute aus vier Generationen hielten sich während dieser 90 Minuten also in der 30-Quadratmeter-Loge auf, die ein Stockwerk unter den Wohnungen liegt, die über der Haupttribüne beginnen.

Milly Schmid hat keinen Besuch. Sie sitzt ganz am Ende des Raumes, an der Wand. Von dort hat man durch die riesige Glaswand nur Einblick auf eine Spielhälfte. Doch Frau Schmid hat Glück, alle Tore fallen auf das Tor, das für sie sichtbar ist. Aber darum geht es gar nicht. „Wissen Sie“, sagt Frau Schmid, „ich komme wegen der Atmosphäre und wegen der Abwechslung.“ Die Fenster sind gekippt, die Gesänge der englischen Fans nach dem 3:1 sind laut und schallen auch hinein in den „Joggeliblick“, sogar bis an die Ohren von Frau Schmid, die nicht mehr so gut hören. „Das sind die Engländer, stimmt’s?“, sagt sie.

Lächeln zum Abschied

Basel will zum Ende hin noch ein Tor schießen. Sie geben sich wirklich nicht auf, und man sieht von Frau Schmids Platz aus minutenlang nur den Basler Torhüter. Dann fährt ManU einen Konter: Einige blau-rote und ein paar weiße Punkte nähern sich. „Jetzt kommen sie wieder.“ Frau Schmid lacht und stößt den Reporter am Ellenbogen. Sie dreht ihren Kopf und zu sehen sind wache, blaue Augen. „Wissen Sie, wenn man so behindert ist wie ich, genießt man es, wenn man so zwischen hineingehen kann ins Leben.“

Frau Schmid sitzt im Rollstuhl. Seit einem Jahr kann sie nicht mehr gehen. Fast 90 Jahre lebte die Frau, die eigentlich aus Zürich stammt, früh ihren Mann verlor, zwei Kinder und drei Enkel großzog, lange Jahre in der Fürsorge arbeitete, ohne Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. „Es ist anstrengend, auf andere angewiesen zu sein“, sagt sie jetzt. Aber Frau Schmid gibt nicht auf. Lieber erzählt sie von ihren beiden Cousins und aus ihrer Kindheit im Zürich der 20er- und 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Sie lächelt sanft in sich hinein und erzählt: „Immer sonntags kamen die zwei. Morgens wurden sie so nett angezogen. Dann gingen sie Fußball spielen. Als sie zum Mittagessen zurückkamen, waren ihre Knie ganz schmutzig und meine Mutter hat immer geschimpft, so lange, bis meine Cousins irgendwann aufhörten, Fußball zu spielen.“ Das ist die einzige Erinnerung, die sie an Fußball hat. Ihr Mann hatte damit nichts am Hut, ihre Kinder und Enkel auch nicht. „Und jetzt“, lacht sie auf, „jetzt wohne ich in einem Fußballstadion.“

Das Spiel ist zu Ende. Der Applaus für die famose Basler Mannschaft ist trotz der Niederlage überschwänglich. Auch im „Joggeliblick“ sind sie zufrieden. „Sie haben gekämpft“ und „man hat nicht immer Glück“, so lautet der Tenor, als sich die Gesellschaft auflöst. Frau Schmid wird abgeholt, eine Schwester kommt. Noch sind fünf Spiele für Basel zu gewinnen, noch ist nichts verloren auf dem Weg in Europas Fußballhimmel. Frau Schmid zupft ihr schlohweißes Haar zurecht und setzt zum Abschied ein zartes Lächeln in ihr altes und doch jugendlich wirkendes Gesicht. Dann sagt sie mit ruhiger Stimme: „Das Schöne an so einem Abend ist, man ist so nah am Leben dran. Viel Glück.“

Bitte, FC Basel, gebt euch nie auf. Frau Schmid zuliebe.

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