Hindus in Kaschmir: Pilgern im Sperrgebiet
Tausende Hindus pilgern dieser Tage wieder nach Armanath - und befinden sich dabei in ständiger Lebensgefahr. Denn die heilige Höhle befindet sich mitten im muslimischen Krisengebiet Kaschmir.
SRINAGAR taz Der Weg zu Lord Shiva, dem vielleicht mächtigsten aller Hindugötter, führt vorbei an Sandsackbarrieren, Maschinengewehren und Stacheldrahtverschlägen. Soldaten suchen mit Ferngläsern die Umgebung ab, weiter oben liegen Scharfschützen. Im Fünfminutentakt donnern Hubschrauber über das Camp, während schwer bewachte Lkw Nachschub bringen. Daneben bereiten sich rund hundert Hindupilger auf einen kräftezehrenden 16-Kilometer-Marsch vor.
Das Basislager der hinduistischen Amarnath-Wallfahrt im Hochgebirge des Himalaja ist militärisches Sperrgebiet: Zutritt gibt es nur nach mehreren Leibesvisitationen durch schwer bewaffnete Soldaten und nach vorheriger Anmeldung. Denn das Ziel des Pilgermarsches, eine Höhle in 3.900 Meter Höhe, liegt mitten im überwiegend muslimischen Krisenherd Kaschmir.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind immer wieder Pilger auf dem Weg zu einem der heiligsten Orte des Hinduismus bei Anschlägen militanter Separatisten ums Leben gekommen. In jüngster Zeit wurden die Sicherheitsvorkehrungen weiter erhöht. Denn eine Kontroverse aus dem Umfeld der Pilgerreise droht das Pulverfass Kaschmir erneut zur Explosion zu bringen.
Vor wenigen Wochen kündigte die Regierung des Bundesstaates Jammu und Kaschmir den Verkauf von 40 Hektar Land an eine religiöse Stiftung an, die den alljährlichen Amarnath-Pilgermarsch ausrichtet. Herbergen und sanitäre Einrichtungen für die Pilger sollten darauf gebaut werden. Das Ergebnis sind Proteste, wie sie Kaschmir seit Jahren nicht mehr gesehen hat.
Denn ein Gesetz verbietet den Verkauf von Land an Menschen oder Einrichtungen außerhalb Kaschmirs. Die Amarnath-Stiftung wird von Persönlichkeiten aus ganz Indien getragen. Militante und moderate Parteien riefen zu Proteststreiks und Demonstrationen auf, Zehntausende gingen allein in der Hauptstadt Srinagar auf die Barrikaden. An der Landfrage entlud sich der Frust, der sich über die Jahre vor allem bei den jungen Kaschmiris angestaut hatte: Es kam zu Straßenschlachten mit Sicherheitskräften, insgesamt sind 22 Menschen gestorben, Hunderte wurden verletzt. Das öffentliche Leben war für zehn Tage lahmgelegt. Die Bilder erinnerten an Proteste im Jahr 1989, denen anderthalb Jahrzehnte brutalster Gewalt folgten.
Omar Abdullah, der als Vorsitzender der Regionalpartei "Nationalkonferenz von Kaschmir" im Zentralparlament in Delhi sitzt, macht landesweit Schlagzeilen mit einer emotionsgeladenen Rede im Unterhaus. Der smarte Mittdreißiger erklärte: "Der Amarnath-Pilgermarsch fand die letzten hundert Jahre statt, und er wird weitergehen, so lange Muslime in Kaschmir leben. Doch das ist eine Frage unseres Landes. Und wir werden weiter für unser Land kämpfen, bis in den Tod."
Delhi war alarmiert. Der Ministerpräsident des Bundesstaats Jammu und Kaschmir zog die Entscheidung zurück und legte sein Amt nieder. Indiens Präsidentin Pratibha Patil löste das Landesparlament auf. Seitdem regiert Delhi den Bundesstaat direkt von der Hauptstadt aus.
Srinagar fühlt sich daher in diesen Tagen an wie das Auge eines Hurrikans: Es herrscht angespannte Ruhe. Doch die Menschen stellen sich darauf ein, dass die weitaus größere Auseinandersetzung erst noch bevorstehen könnte.
Der Imam der Jamia Masjid, der größten Moschee in Srinagar, beendet in Ruhe die Freitagsgebete. Tausende Gläubige stehen auf und verlassen das gewaltige Gebäude in der Altstadt durch die vier Ausgänge, während sich etwa hundert Menschen in den grasgrünen Innenhof setzen, um weiter zu beten. Junge Männer setzen sich in kleinen Gruppen zusammen und unterhalten sich, als von draußen ein dumpfer Knall durch das Gebäude hallt. "Steinewerfer", sagt ein Kaschmiri, Anfang 20.
Auf der Hauptstraße vor der Moschee liegen bereits etliche Steine, einige Dutzend zumeist junge Männer stehen beisammen. Ein Polizeijeep fährt vorbei, sofort werfen die Männer Steine nach den Polizisten. Der Fahrer gibt Vollgas, das Auto macht kehrt und rast davon. Dabei bleibt es, dieses Mal.
Weder die Armee noch die paramilitärische Polizeieinheiten sind aufmarschiert und lassen damit die Demonstration vor der Moschee ins Leere laufen. Denn erst einen Tag zuvor haben Sicherheitskräfte einen jungen Mann bei einem Protest in der Innenstadt erschossen; zu einer weiteren Eskalation soll es jetzt auf keinen Fall kommen.
"Unsere Jungen hier sind gewalttätig", sagt ein Mann Anfang Vierzig. Die älteren Kaschmiris erinnerten sich noch an die Zeit vor 1989, als im Kaschmirtal Frieden herrschte. "Aber die Jungen sind wütend. Sie kennen nur die Konfrontation, und jeder von ihnen hat Menschen sterben gesehen." Daher hätten es militante Politiker heute besonders einfach, junge Menschen auf die Straßen zu bekommen. "Dabei ist die Lage heute zu 90 Prozent besser als vor wenigen Jahren. Damals sind hier fast jeden Tag Menschen bei Kämpfen zwischen Militanten und der Polizei getötet worden."
Dennoch haben sich die Sicherheitskräfte in Srinagar eingerichtet, als würde jeden Moment eine feindliche Armee einmarschieren. Vor Brücken und öffentlichen Gebäuden befinden MG-Stellungen hinter Sandsäcken. In den Straßen der Stadt patrouillieren Polizisten aus allen Teilen Indiens. Sie tragen dicke, schusssichere Westen, Stahlhelme und halten Maschinengewehre im Anschlag. Viele der meist jungen Polizisten wirken nervös, denn sie bekämpfen einen unsichtbaren Feind: Den wiedererstarkenden Separatismus.
Schon jetzt ist der wirtschaftliche Schaden enorm, den die Proteste verursacht haben. Denn die Krise setzte mitten in der Hauptreisezeit ein. Nun sind kaum noch Touristen in Srinagar zu sehen. Eine der wichtigsten Einnahmequellen des Kaschmirtals ist damit, zumindest für dieses Jahr, versiegt. "Wieso musste die Regierung ausgerechnet jetzt diese Entscheidung treffen, in der Urlaubszeit?", sagt Farhaan P.* Sein Souvenirgeschäft neben dem berühmten Dal-See im Zentrum der Stadt ist verwaist. "Noch vor wenigen Wochen waren alle Hotels und Hausboote ausgebucht, die Geschäfte liefen wirklich sehr gut." Nun blieben vor allem indische Touristen aus Angst vor weiteren Zusammenstößen fern.
Auch das Geschäft von Abdul K.*, 33, steht leer. Er sitzt auf den Stufen vor dem Laden mit Handwerksarbeiten. "Für das Geschäft ist es katastrophal. Trotzdem waren die Proteste gut, schließlich geht es um unser Land", sagt er und nimmt einen Schluck Tee. Der Verkauf des Landes an die Amarnath-Stiftung wäre doch nur der Anfang gewesen, sagt er dann. Als nächstes hätte die Regierung begonnen, Land in Srinagar selbst zu verkaufen. "Wir kämpfen seit 19 Jahren für unsere Unabhängigkeit. Und wir werden wieder auf die Straßen gehen, sollte die Regierung unser Land hergeben."
Doch genau das fordern jetzt Demonstranten in Jammu, dem Südteil des Bundesstaates Jammu und Kaschmir, wo mehrheitlich Hindus leben. Dort kommt es seit etwa zwei Wochen jeden Tag zu gewaltigen Protesten, die bereits mehrere Tote gefordert haben. Die Armee, die mittlerweile in die Region eingerückt ist, hat den Schießbefehl erhalten. Dennoch gehen jeden Tag tausende Menschen auf die Straßen und blockieren den Highway nach Srinagar und damit die Lebensader der gesamten Region. Hunderte Lkw mit Lebensmitteln und Treibstoff hängen deswegen fest. In Kaschmir kommt es bereits zu Versorgungsengpässen.
"Wir kämpfen weiter"
Leela Karan Sharmas Telefon steht dieser Tage nicht still. Der Anfangsechziger führt die Proteste der Hindus in Jammu an. Sharma ist der Vorsitzende des Amarnath Sangharsh Samiti, eines Aktionsbündnisses aus mehreren religiösen Gruppierungen und hindunationalistischen Parteien. "Die Regierung hat mit ihrer Entscheidung, die Landvergabe zurückzunehmen, die Gefühle der Hindus verletzt", sagt er. Die Landesregierung des Bundesstaates und die Zentralregierung in Delhi machten "gemeinsame Sache" mit den "Separatisten".
"Den Leuten ist die Sache sehr wichtig. Jammu steht jetzt unter Kriegsrecht, die Armee ist hier. Trotzdem gehen jeden Tag tausende Menschen auf die Straßen und liefern sich Straßenschlachten mit der Armee." Die Proteste würden nicht aufhören, bis das Land der Amarnath-Stiftung übergeben werde. "Wir werden auf jeden Fall weiterkämpfen."
Hunderte Kilometer weiter im Norden treffen die Hindupilger am Ziel ihres Marsches ein. Weit oben im Berg klafft eine riesige Höhle auf, streng bewacht von Soldaten, die ihr Lager darunter aufgeschlagen haben. In den Berg geschlagene Stufen führen zu einem der heiligsten Orte des Hinduismus: zu dem Schrein im Inneren der Höhle.
"Da hinten ist Shiva", sagt der Priester des Tempels. Der Mann trägt eine dicke Winterjacke und eine schwarze Wollmütze und deutet auf die dunkle Wand hinter den Metallgittern. "Daneben sitzen Parvati, seine Gefährtin, und Ganesha, ihr Sohn." Im hinteren Teil der Höhle steht ein etwa 50 Zentimeter hoher, konischer Eisstalagmit. Gläubige Hindus sehen darin einen "Lingam", ein Zeichen für die Anwesenheit Shivas. Ein Schafhirte soll die Höhle vor 150 Jahren entdeckt haben. Seitdem pilgern Hindus aus ganz Indien hierher.
Doch dem Heiligtum droht eine weitaus größere Gefahr: Wegen der weltweit gestiegenen Temperaturen hat das Eisgebilde begonnen zu schmelzen. In den nächsten Jahrzehnten könnte es komplett verschwunden sein. Es wäre das Ende der Amarnath-Pilgerreise.
* Namen geändert
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