Psychologin über Ghosting: „Oft hilft schon das Zuhören“
Wer ohne Ankündigung und Erklärung sitzen gelassen wird, wurde geghostet. Psychologin Anja Wermann hilft Betroffenen in ihrer Berliner Ambulanz.

taz: Frau Wermann, wie kamen Sie auf die Idee, eine „Ghosting-Ambulanz“ zu gründen?
Anja Wermann: Ende 2020 wurde ich selbst geghostet und bin ziemlich ins Straucheln gekommen. Auch wenn ich Psychologin bin, ist es ja nicht so, dass ich mit allen Sachen, die mir das Leben entgegenwirft, sofort klarkomme. Da muss ich selbst erst mal schauen, wie ich damit umgehe. Und als ich diese Geschichte halbwegs verdaut hatte und gesehen habe, was für mich hilfreich ist, dachte ich, vielleicht kann ich etwas Gutes daraus machen. So bin ich auf die Idee der „Ghosting-Ambulanz“ gekommen. Und tatsächlich gibt es eine besondere Nachfrage.
taz: Neu ist Ghosting aber nicht, oder?
Wermann: Als ich meinen Großeltern einmal von der „Ghosting-Ambulanz“ erzählt habe, haben die gemeint, das kennen wir, früher sagte man „ich geh mal kurz Zigaretten holen“ –und war dann halt weg. Aber auch wenn das kein neues Phänomen ist, hat sich das im Rahmen von Onlinedating doch sehr verstärkt.
taz: Weil Ghosting in der digitalen Welt einfacher ist?
Wermann: Es ist einfacher, und ich glaube, man verliert durch dieses Onlinedating auch manchmal das Gefühl dafür, dass da ein echter Mensch am anderen Ende ist. Mir fällt da ein Mann ein, der sich mir gegenüber einmal ziemlich blöd verhalten hat. Als ich ihn damit konfrontiert habe, hat er sich entschuldigt und gesagt, dass er durch jahrelanges Onlinedating völlig abgestumpft ist.
taz: Warum ghostet man überhaupt Menschen?
Wermann: Es gibt inzwischen Studien dazu. Von: „Ich habe keine Lust, mich damit auseinanderzusetzen“; „Das ist doch jetzt irgendwie normal beim Onlinedating“ bis „Ich will die andere Person nicht verletzen“ gibt es ein relativ weites Spektrum an Beweggründen. Ghosting passiert aber nicht nur beim Onlinedating, auch in Freundschaften oder im Arbeitsleben wird geghostet, etwa wenn Menschen, die sich um einen Job beworben haben, nicht beim Vorstellungsgespräch auftauchen.
taz: Die Journalistin Tina Soliman schreibt, dass Ghosting in Freundschaften besonders häufig vorkommt.
Wermann: Das ist auch in meiner Beratung Thema, das kann einen ganz schön aus der Bahn bringen, wenn eine langjährige Freundschaft wortlos abgebrochen wird. In Familien wird auch geghostet, das ist aber eine ganz andere Situation, auch in der Beratung. Es ist für Eltern schwer vorstellbar, dass sich die Tochter oder der Sohn nicht mehr melden wird. Tina Solimann spricht hier deswegen von Funkstille.
geboren 1983, ist Diplom-Psychologin und seit 2014 als selbstständige psychologische Beraterin in Berlin tätig. Ihre „Ghosting-Ambulanz“ ist das einzige Beratungsangebot dieser Art in Deutschland. Deshalb berät sie auch online. Darüber hinaus bietet Anja Wermann auch Single-, Paar- und Sexualberatungen an.
taz: Wer kommt zu Ihnen in die Beratung?
Wermann: An mich wenden sich vor allem Menschen, die Ghosting in romantischen Beziehungen erlebt haben. Vielleicht weil das einen mehr rausreißt, wenn man sich eine gemeinsame Zukunft vorgestellt hat und dann plötzlich auf null gesetzt wird. Vor allem Frauen kommen zu mir.
taz: Wie erklären Sie sich das?
Wermann: Ich habe zwei Theorien: Einmal können sich Frauen wohl leichter mit mir identifizieren. Dann haben sie oft einen anderen Umgang mit solchen Situationen. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Männer dazu neigen, derartige Erfahrungen mit äußeren Gründen zu erklären. Frauen neigen dagegen dazu, sich selbst die Schuld zu geben.
taz: Diese ewige Suche nach den Gründen des Ghostings scheint ein Kernproblem der Betroffenen zu sein.
Wermann: Menschen brauchen eine Erklärung, um Dinge abschließen zu können. Wenn man ohne ein Wort sitzen gelassen wird, gerät man schnell in Gedankenkreise. Permanent sucht man nach möglichen Ursachen, geht vergangene Situationen durch, um Vorzeichen und Erklärungen für das Verhalten des anderen zu finden. Das kann sich über Wochen, Monate, manchmal sogar Jahre hinstrecken. Für andere ist das oft schwer zu verstehen. Da sagt der Freundeskreis nach vier, fünf Jahren: Du, wir mögen dich total gerne, aber wir können es nicht mehr hören, wir wissen nicht mehr, was wir dazu sagen sollen.
taz: Kommt daher die große Nachfrage nach einer „Ghosting-Ambulanz“?
Wermann: Ja. Vielen Menschen hilft oft schon das Zuhören. Dabei schaue ich ganz genau, wo der größte Schmerz liegt. Mal angenommen, jemand knabbert ganz stark an dem Warum. Dann geht es in erster Linie darum, den Fokus wieder zu sich zurückzuholen und auf eine Ebene zu kommen, auf der man selbst etwas bewirken kann.
taz: Wie kann das gelingen?
Wermann: Ich habe da verschiedene Techniken. Eine ist die mit dem imaginären Buch: Ich gehe mit der betroffenen Person die Beziehungsgeschichte ganz ausführlich durch, so, als würde sie sie in einem Buch lesen. Dann „blättert“ sie um und die Seite ist plötzlich leer. Man könnte jetzt noch zwei Jahre vor dieser leeren Seite sitzen und sich fragen: Was ist an dieser Stelle der Geschichte passiert? Oder man macht das Buch erst mal zu, stellt es ins Regal und schaut sich in seinem jetzigen Leben um: Was steht da jetzt eigentlich an? Wenn man großen Drang hat, kann man sich das Buch auch wieder rausholen, ein bisschen drin rumblättern, es dann aber auch zurück ins Regal stellen und sich wieder mit der Gegenwart beschäftigen. Später kann es sogar passieren, dass man plötzlich versteht, warum das passiert ist, wozu das vielleicht sogar gut war. Genau das ist für viele ein sehr hilfreicher Gedanke: Ich muss das nicht sofort verstehen.
taz: Zumal die Gründe ja nicht nur in der Beziehung liegen. Meist führen ältere Prägungen und Beziehungserfahrungen dazu, dass sich Menschen für diese Art des Kontaktabbruchs entscheiden.
Wermann: Das stimmt. Oft ist da eine große Konfliktangst, also dass ein Mensch sehr harmoniebedürftig ist und sich nicht traut, Probleme anzusprechen. Auch Angst vor der Reaktion des Partners oder der Partnerin spielt eine große Rolle. Leider aber kann ich diese Person nicht mehr fragen, das ist ja das Problem. Also bleibt mir nur, über mein eigenes Verhalten zu grübeln.
taz: Steckt dahinter auch der Wunsch, solche Erfahrungen in Zukunft verhindern zu können, wenn man weiß, was man „falsch“ gemacht hat?
Wermann: Ja, es ist ein Versuch, die Kontrolle zurückzuerlangen. Ghosting ist eine Erfahrung von großer Hilflosigkeit und Ohnmacht. Viele fühlen sich, als hätte ihnen jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Das ist auch der wesentliche Unterschied zu einer normalen Trennung, denn die sieht man ja in der Regel kommen. Viele haben nach einer Ghosting-Erfahrung Angst, einen so heftigen Kontrollverlust noch mal zu erleben. Das macht es schwer für sie, erneut Vertrauen zu fassen und eine neue Beziehung einzugehen. Denn natürlich gibt es keine Garantie, dass so etwas nicht noch mal passiert.
taz: Man kann also nichts dagegen tun?
Wermann: In gewisser Weise muss man lernen, mit den Ungewissheiten und Unwägbarkeiten des Lebens zurechtzukommen. Die Frage ist also, wie gehe ich mit dieser Angst und diesem Stress um. Ghosting wird auch als körperlicher Stress erlebt, viele haben etwa mit Schlafproblemen zu tun. Da setze ich an und schaue, was tut der Person in solchen Momenten gut. Kann sie sich an Freund:innen wenden, bei der Telefonseelsorge anrufen, hilft ihr Meditation, Atemübungen, was auch immer. In erster Linie geht es darum, wieder an Stabilität zu gewinnen.
taz: Was für eine Rolle spielt Trauer- und Verlustbewältigung?
Wermann: Das ist auch ein großes Thema. Mit dem oder der Partner:in sind ja meist auch sehr wertvolle Dinge verloren gegangen, schöne Momente und Interessen, die man miteinander geteilt hat. In der Beratung schaue ich dann, was man tun kann, um diesen Verlust aufzufangen, also was an diese Leerstellen treten könnte.
taz: Ghosting hat etwas sehr Gewaltvolles, schließlich zwingt einen der andere ja zu dieser Form der Trennung – mit allen Folgen. Wo bleibt da die Wut?
Wermann: Das ist wahrscheinlich wieder so ein Frauenthema. Viele Frauen haben Probleme, Wut zu spüren, oder richten diese gegen sich selbst. Es gibt den schönen Begriff Wutkraft, diese zu finden kann sehr hilfreich sein. Das ist ein sehr körperliches Thema, hierfür gibt es extra Workshops. Solche Empfehlungen gebe ich immer, wenn ich merke, dass ich in meiner Beratung an Grenzen komme.
taz: Wie lange dauert eine Beratung bei Ihnen?
Wermann: Das ist ganz unterschiedlich. Bei manchen reicht schon ein Gespräch, bei anderen wird es eine mehrmonatige Begleitung, weil das dann auch in andere Themenbereiche geht. Wenn man zum Beispiel an dem Punkt ist, dass man wieder über Dating nachdenkt, und merkt, jetzt fühle ich mich aber unsicher, dann geht es in Richtung Single-Beratung. Es gibt auch Menschen, die aus dieser Krise gar nicht mehr rausfinden. Da liegen oft noch tiefere Sachen darunter, schwere Erfahrungen von Verlust und Ablehnung in der Vergangenheit. Diesen Menschen empfehle ich eine Psychotherapie.
taz: Gibt es eigentlich auch gute Gründe für Ghosting?
Wermann: Es gibt durchaus Fälle, in denen Ghosting berechtigt ist. Wenn wir etwa an Gewalt in Beziehungen denken. Da würde ich jeder betroffenen Frau raten, die Trennung vorher nicht anzukündigen. Wir lesen ja fast jeden Tag in der Zeitung, dass gewalttätige Männer ihre Frauen meist dann umbringen, wenn sie gehen möchten. Ghosting ist also nicht per se schlecht, sondern kann auch Selbstschutz sein.
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