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■ Heute beginnen die rot-grünen Koalitionsverhandlungen. Die Grünen sollten sich dabei auf ihre Kernthemen konzentrierenEin bißchen Aufbruch, bitte!

Es ist erst ein paar Jahre her, daß Christian Ströbele von Rot- Grün als „Jahrhundertchance“ sprach. Jetzt ist sie da – und die Öffentlichkeit bleibt merkwürdig unterkühlt. Der Machtwechsel sieht eher nach einem Wechsel der Geschäftsführung der Deutschland AG aus als nach einer historischen Zäsur. Das liegt nicht nur an der kühlen Oberfläche des kommenden Kanzlers. Zwar hat Gerhard Schröder seinen Triumph selbst in die Tradition der Willy-Brandt- Wahl von 1972 gestellt. Doch von Aufbruch ist nicht viel zu spüren. Rot-Grün hat eine parlamentarische Mehrheit, das genügt als Auftrag zum Handeln. Ein politisches Projekt, das die Gesellschaft bewegt, muß daraus erst noch werden. Was könnte heute das Äquivalent zu „Mehr Demokratie wagen“ und dem Friedensprozeß zwischen West und Ost sein?

Mag sein, daß sich diese Frage vor allem für die Bündnisgrünen stellt. Niemand erwartet von ihnen jetzt ernsthaft die große „ökologische, soziale und demokratische Wende“. Dafür ist die Bilanz der rot-grünen Landesregierungen zu ernüchternd. Auch in der Bundesregierung ist der archimedische Hebel nicht zu finden, mit dem die Gesellschaft in eine neue Umlaufbahn katapultiert werden könnte. Die Rahmenkompetenz der Europäischen Union und die Eigendynamik des Weltmarkts begrenzen die Handlungsspielräume ebenso wie die Überschuldung der öffentlichen Haushalte, die keine kreditfinanzierten Wohltaten mehr erlaubt. Dennoch werden die Grünen auf Gedeih und Verderb an den Reformen gemessen, die sie anstoßen – und das zu Recht.

Für die Grünen werden schon die Koalitionsverhandlungen eine riskante Gratwanderung: Sie sind zu ergebnisorientierten Verhandlungen verdammt, um von Beginn an Handlungsfähigkeit, Verantwortung und Augenmaß zu demonstrieren. Gleichzeitig müssen sie versuchen, die Weichen für zentrale Reformen zu stellen, an denen sich weit über das bündnisgrüne Wählerpotential hinaus eine politische Aufbruchstimmung entzünden kann. Da es nicht möglich ist, mit 6,7 Prozent Wählerstimmen flächendeckend das Regierungsprogramm zu prägen, sollten sich die Grünen auf die politischen Felder konzentrieren, für die sie eine Lokomotivrolle spielen können.

Superman Schröder hat bereits klipp und klar formuliert, was für ihn die Essentials sind, die nicht zur Disposition stehen: „Stabilität der Wirtschaft, innere Sicherheit und Kontinuität in der Außenpolitik“. Dem muß man nicht widersprechen. Aber ein „Politikwechsel“ sieht anders aus.

Mit Schröder ist sicher nicht über die „Grenzen des Wachstums“ zu diskutieren. Aber weshalb das allseits beschworene Bündnis für Arbeit nicht zu einem Bündnis für Arbeit und Umwelt ausbauen? Ökologische Innovationen als Treibsatz für neue Produkte und zukunftsfähige Arbeitsplätze – das müßte mit Lafontaine und Stollmann zu machen sein.

Dazu gehören zwei Schlüsselprojekte: der Einstieg in eine ökologische Steuerreform, die den Naturverbrauch verteuert und die Arbeitskosten senkt; und eine Energiewende, die den Ausstieg aus der Atomenergie mit der massiven Förderung regenerativer Energietechniken kombiniert. Gibt es ein besseres Markenzeichen für eine ökologisch und technologisch innovative Politik als den Aufbruch ins Solarzeitalter?

Daß die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit weder über die Steigerung des Bruttosozialprodukts noch mit öffentlichen Beschäftigungsprogrammen alter sozialdemokratischer Schule erreichbar ist, auch darüber sollte mit dem designierten Arbeitsminister Riester Übereinstimmung erzielbar sein. Die Zukunft der Arbeit sieht anders aus: sozialpolitische Flankierung kürzerer Arbeitszeiten, Job-Sharing, Kombination von Erwerbsarbeit und Fortbildung, zeitweiser Wechsel zwischen Erwerbsarbeit und „Bürgerarbeit“. Die Barrieren zwischen Familienarbeit, sozialem Engagement und kommerzieller Arbeit müssen durchlässig werden – nicht nur im Interesse der Frauen.

Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und eine akzeptierende Einwanderungspolitik ist die Gretchenfrage für die Demokratie in Deutschland: Erst mit der Durchsetzung staatsbürgerlicher Rechte für die Einwanderer können die unvermeidlichen Konflikte der multikulturellen Gesellschaft demokratisch ausgetragen werden. Es wird auch in Zukunft kulturelle Konflikte und soziale Konkurrenz zwischen Eingeborenen und Einwanderern geben, aber es macht einen Unterschied ums Ganze, ob sie zwischen „Deutschen“ und „Ausländern“ stattfinden oder zwischen deutschen Staatsbürgern unterschiedlicher Herkunft.

Die Koalition wird die Bündnisgrünen zwingen, ihren politischen Ort neu zu bestimmen. Überlassen sie Schröders Tabubrecher Stollmann das Aufmischen der überlebten Strukturen – oder suchen sie den Innovationswettbewerb um zukunftsfähige Lösungen, die soziale Grundrechte mit Eigeninitiative und Selbstverantwortung kombinieren? Man muß Tony Blairs New Labour nicht für ein Vorbild halten – aber eine intensivere Auseinandersetzung mit der Idee des dritten Weges zwischen traditionslinkem Etatismus und neoliberaler Marktvergötzung könnte auch für die Grünen fruchtbar sein. Zum Beispiel für eine neue Definition von Umverteilungspolitik, die in erster Linie darauf abzielt, jedem die Chance auf Bildung und qualifizierte Erwerbsarbeit zu eröffnen, um sein Leben selbst gestalten zu können.

Die SPD hat die Wahl gewonnen, weil sie dem Lagerwahlkampf ausgewichen ist, den ihr Kohl, Waigel und Hintze aufdrücken wollten. Diese Lektion gilt auch für die Politik der rot-grünen Koalition. Sie wird nur erfolgreich sein, wenn sie auch die „neue Mitte“ gewinnt, die parteipolitisch nicht festgelegten Funktionseliten in Unternehmen, Wissenschaft, Kultur und Verwaltung – nicht mit einer FDP- Politik des „Bereichert euch!“, sondern mit einer verantwortlichen Modernisierungsstrategie, die auf soziale Integration setzt.

Joschka Fischer hat recht, wenn er gerade jetzt die Geschlossenheit der Bündnisgrünen einfordert. Sie kann aber nicht mit dem Verzicht auf die politische Diskussion über das künftige Profil der Partei erkauft werden. Bei allem Verständnis für den Wunsch, die Verhandlungen möglichst ohne innerparteiliche und medienöffentliche Begleitmusik über die Bühne zu bringen: die Formierung einer neuen politischen Mehrheit für die Berliner Republik ist auch die Stunde der demokratischen Öffentlichkeit. Ralf Fücks

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