Heinemann-Bürgerpreis an Pater Mertes: „Es brauchte sehr mutige Betroffene“
Pater Mertes soll für seine Aufklärungsverdienste am Canisius-Kolleggeehrt werden. Warum auch der gequälte Exschüler Matthias Katsch geehrt werden sollte. Ein offener Brief.
Die Nachricht, dass der Gustav-Heinemann-Bürgerpreis an Pater Klaus Mertes verliehen werden soll, ist eine erfreuliche Geste. Ich möchte Ihnen allerdings vorschlagen, diesen Preis ex aequo auch an Matthias Katsch zu verleihen. Er ist derjenige, der mit seinem offenen Sprechen über den erlittenen Missbrauch Pater Mertes zu seinem Schritt veranlasst hat. […]
Die Leistung von Pater Mertes sehe ich darin, dass er unmittelbar nach den ersten Veröffentlichungen in der Presse als erster Vertreter seiner Institution den Opfern öffentlich versicherte: „Wir glauben euch und ermuntern euch, zu sprechen.“
Da durch ist er zum Vorbild für den Umgang mit sexuellem Missbrauch in Institutionen geworden. Noch immer neigen Führungskräfte dazu, in Verdachtsfällen mehr die Interessen der Institution als die der Opfer zu sehen und sich gegen Transparenz zu entscheiden.
Pater Mertes wusste jedoch schon jahrelang von den Missbrauchsfällen, ohne zu handeln. Es brauchte ganz offensichtlich den Willen sehr mutiger Betroffener, die Fälle öffentlich zu machen.
Der 28. Januar 2010 war der D-Day für die Aufklärung sexueller Gewalt. Da gab der Jesuitenpater Mertes öffentlich zu, dass es an seinem Canisius-Kolleg systematischen Missbrauch gab. Damit trat er eine Welle los. Überall beriefen sich die Missbrauchten auf ihn – und gingen an die Öffentlichkeit. Dafür soll Klaus Mertes nun den von der SPD gestifteten Gustav-Heinemann-Preis erhalten. Nun sagen die vom Missbrauch Betroffenen, auch deren Mut müsse belohnt werden, indem Matthias Katsch, der unermüdlich für die Aufklärung kämpfte, den Preis ebenfalls erhält. Die taz dokumentiert den offenen Brief der Ehefrau eines Betroffenen, der die Bekanntmachung des Missbrauchs in katholischen Institutionen 2009 aktiv iniitiert hat.
Der Betroffene, der diesen Prozess maßgeblich angeschoben hat, ist Matthias Katsch, heute bekannt als der Sprecher der von ihm mitbegründeten Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ (www.eckiger-tisch.de).
Seit der von ihm initiierten Bekanntmachung der Fälle im Januar 2010 engagiert sich Matthias Katsch intensiv für die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle an den Jesuitenschulen und an anderen Einrichtungen, für die Einbeziehung der Betroffenen in die Diskussionen um Aufarbeitung und Prävention.
Ich kenne diese Männer, die heute unter dem Begriff Eckiger Tisch bekannt geworden sind, sehr gut. Ich habe im Verlauf der beiden vergangenen Jahre einen intensiven Einblick gewonnen in ihre Aufdeckungsarbeit, die Mühen, Höhen und Tiefen.
Hinter diesen Männern und hinter Matthias Katsch stand keine Organisation oder Gemeinschaft, die ihn/sie aufgefangen hätte.
Das Handeln der engagierten Männer um den Verein Eckiger Tisch ist eine ehrenamtliche Arbeit, die kaum unterstützt wurde, sodass einige dieser Männer in den vergangenen zwei Jahren erhebliche finanzielle Einbußen aufgrund ihres für unsere Gesellschaft wichtigen Engagements hatten, teil- und zeitweise schwer erkrankten und Beziehungen scheiterten. Leider ist das Thema des sexuellen Missbrauches an Institutionen weiterhin nicht ausreichend bearbeitet. […]
Ich finde es einen wichtigen Schritt, den Pater Mertes gegenüber seiner eigenen Gemeinschaft geleistet hat. Die katholische Kirche hat nach wie vor, wie jüngste Veröffentlichungen zeigen, sowohl in der Aufklärung als auch in der Aufarbeitung versagt.
Bis heute haben wir kein zusammenhängendes Bild der Verbreitung sexueller Gewalt im Bereich der katholischen Kirche. Es gibt keine Zahlen und Daten dazu, weil niemand – keine Instanz – sie gesammelt hat.
Im Unterschied zu Irland oder den Niederlanden hat keine unabhängige Stelle bisher eine entsprechende Untersuchung durchgeführt. Entschädigungen werden nicht gezahlt, rechtliche Ansprüche gelten als verjährt.
Die Institution, die die Verbrechen gedeckt und vertuscht hat, hat stattdessen aus eigener Entscheidung eine sogenannte Anerkennungszahlung von bis zu 5.000 Euro festgesetzt, die jedoch nur von wenigen Betroffenen bislang angenommen wurde. […]
Viele dieser Männer leiden bis heute unbeschreibbar, sodass es im Umkehrschluss nicht als Tat von Pater Mertes gewürdigt werden darf, was in den vergangenen Jahren in Deutschland passiert ist. Ich schlage daher vor, den Preis ex aequo an Pater Klaus Mertes und Matthias Katsch zu verleihen. Dies wäre ein Zeichen der Würdigung des Mutes, Schweigen zu brechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland