Hannovers Oberbürgermeister im Interview: „Kein Hexenwerk“

Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) kritisiert überflüssige Bürokratie im Umgang mit ukrainischen Geflüchteten.

Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) spricht vor der Notunterkunft auf dem Messegelände zu Reportern.

Oberbürgermeister im Dauer-Ausnahmezustand: Belit Onay trat sein Amt kurz vor Pandemiebeginn an Foto: Moritz Frankenberg/dpa

taz: Herr Onay, Hannover wird gerade zum Drehkreuz für ukrainische Geflüchtete. Ab wann war Ihnen klar, dass hier einiges auf die Stadt zukommt?

Belit Onay: Eigentlich bei den ersten Kriegshandlungen. Wir kennen ja die Wege und auch die Größe der Community hier. Wir haben auch sofort angefangen, Aufnahmekapazitäten zu schaffen. Zunächst in zwei Feuerwachen, dann in den Messehallen. Jetzt schauen wir nach weiteren städtischen Liegenschaften, die wir nutzen können und mieten Hotels an.

Damit ist es aber nicht getan.

Nein, das war schnell klar: Es geht um mehr als bloß ein Dach über dem Kopf. Es sind ja überwiegend Frauen und Kinder, die kommen. Wir hatten schon in den ersten Gruppen, die angekommen ist, Kinder. Die mussten 65 Stunden zu Fuß zur Grenze zurücklegen, weil die Fahrzeuge nicht mehr nutzbar waren. Da müssen dann nicht nur die geschwollenen und wunden Füße versorgt werden, die brauchen auch noch eine ganz andere Ansprache und Zuwendung. Wir haben sofort angefangen, pädagogische Angebote zu organisieren, weil diese Kinder Struktur und Beschäftigung brauchen, um anzukommen.

Es gab Klagen, dass es vor allem bei der Koordination der privaten Hilfsangebote noch ziemlich knirscht.

Das ist auch keine ganz leichte Aufgabe. Wir sind natürlich dankbar für dieses Engagement – das sind ja zum Teil die gleichen Menschen, die das auch 2015/2016 getan haben, die sind jetzt sofort wieder da gewesen. Gleichzeitig erhalten wir unzählige Hilfsangebote aller Art. Wir haben extra Personal abgestellt, um das zu koordinieren. Aber gerade im Hinblick auf die Vermittlung von privaten Unterkünften können wir oft auch nur an andere Strukturen verweisen – wie zum Beispiel die Plattform „Unterkunft Ukraine“ – weil uns selbst die Kapazitäten fehlen, um die Angebote zu überprüfen. Und wir wollen natürlich nicht riskieren, Menschen in prekäre oder gar illegale Verhältnisse zu vermitteln.

An welchen Stellen hakt es noch?

Belit Onay

41, ist seit November 2019 Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Hannover. Der Jurist gehört der Partei Bündnis 90/Die Grünen an.

Ich hätte mir gewünscht, dass man bei den bürokratischen Anforderungen an unsere Ausländerbehörde die ein oder andere Lektion aus 2015/16 gelernt hätte. Es ist ja gut, dass wir jetzt mit der Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie weniger Hürden haben: Die Menschen können sich frei bewegen, haben Zugang zum Arbeitsmarkt, alles super. Im Detail ist es dann aber immer noch so, dass sich die Leute bei uns melden müssen, erkennungsdienstlich behandelt werden und dann einen elektronischen Aufenthaltstitel beantragen müssen. Der wird in der Bundesdruckerei gefertigt, für die Zwischenzeit stellen wir eine Fiktions- oder Übergangsbescheinigung aus.

Und wo ist das Problem?

Dann muss diese Person wieder einen Termin machen, um diesen Aufenthaltstitel abzuholen. Da werden oft mehrere Termine fällig – für eine einzelne Person! Da würde ich mir einfach wünschen, wir könnten Arbeitsschritte einsparen. 2016 haben wir es ja auch so gemacht, dass wir die Aufenthaltstitel in die Pässe geklebt haben. Das Gleiche gilt für die Befristungen: Warum können diese Aufenthaltstitel jetzt nicht gleich für ein oder zwei Jahre gelten? Damit wären die Menschen auch als Arbeitnehmer viel attraktiver und wir müssten nicht in sechs Monaten schon wieder diesen Apparat anwerfen.

Jetzt geraten Sie in Fahrt …

Ja, weil es so überflüssig ist. Integrationskurse sind ein weiteres Beispiel: Gerade hat das Bundesinnenministerium verkündet, es gibt mehr Integrationskurse. Das ist gut. Aber: auf Antrag. Und wer soll diese Anträge bearbeiten? Viel wichtiger wäre es doch, jetzt erst einmal zu schauen, dass wir die Kapazitäten überhaupt aufbauen. Wir brauchen ja dieses Mal auch viel mehr Kurse mit Kinderbetreuung. Oder der Leistungsbezug…

Geflüchtete aus der Ukraine bekommen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.

An denen es zu Recht viel Kritik gibt, weil sie noch unter dem Existenzminimum liegen. Warum können wir diese Menschen jetzt nicht sofort in den SGBII-Bezug übernehmen, wo es eine bessere Absicherung, bessere Krankenversicherung und bessere Beratungsmöglichkeiten gibt, zum Beispiel durch die Jobcenter? Dann wäre auch die Finanzierung durch den Bund gesichert, während die Leistungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz zunächst einmal die kommunalen und die Landeshaushalte belasten.

Dann hat man hier endgültig ein System von Flüchtlingen erster und zweiter Klasse.

Das ist unbestreitbar so. Das entsteht aber schon durch die EU-Flüchtlingspolitik und die Diskussionen auf dieser Ebene. Ich hätte mir schon länger einen liberaleren Ansatz gewünscht. Auch 2015 schon. Das ist doch alles kein Hexenwerk, wir wissen doch, was es braucht, damit Integration und Teilhabe gelingen – Zugang zur Sprache und Zugang zum Arbeitsmarkt und zwar möglichst früh und möglichst umfassend.

Wären Sie für eine Wohnsitzauflage, die jetzt von manchen überlasteten Städten gefordert wird?

Ich halte die nur für begrenzt sinnvoll. Natürlich kann sie am Anfang helfen, die Ankommenden besser zu verteilen. Aber dann wird sie auch schnell zum integrationspolitischen Klotz am Bein. Und unsere Ausländerbehörde muss sich wiederum mit den Anträgen auf Aufhebung befassen, weil einzelne Personen einen Job in einem anderen Landkreis oder einer anderen Stadt gefunden haben.

Sie regieren hier in Hannover praktisch von Anfang an im Ausnahmezustand, was bedeutet das für Sie?

Es stimmt, die Pandemie begann anderthalb Monate, nachdem ich das Amt angetreten hatte und jetzt geht eine Krise nahtlos in die nächste über. Das ist natürlich herausfordernd. Aber ich bin immer davon ausgegangen, dass dieses Jahrzehnt das entscheidende Transformationsjahrzehnt wird – daran ändern auch die Pandemie oder der Angriffskrieg nichts. In dieser Einschätzung fühle ich mich bestätigt. Die gravierenden Krisen wirken jetzt als Katalysatoren und beschleunigen den Wandel noch einmal. Bestimmte Weichen müssen jetzt eben gestellt werden – oder sie werden nicht mehr gestellt. Ich bin mit genau diesen Themen angetreten: der Kampf gegen die Klimakrise und für eine gerechte Gesellschaft. Daran werden wir weiterarbeiten.

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