Hamburger Künstlerkollektiv HGich.T: „Auf der Bühne ist rechtsfreier Raum“

Das Hamburger Künstlerkollektiv HGich.T über neue Mitglieder im Rentenalter, Existenzängste und Songs über die Schule.

Dr. Diamond: „Wenn die Neonfarben leuchten, dann geht es allen ein bisschen besser. “ Bild: dpa

taz: An Ihrem neuen Album „Lecko Grande“ hat ein ungewöhnliches neues Bandmitglied mitgewirkt. Der Exstaatsanwalt und Filmkritiker Dietrich Kuhlbrodt alias „Opa 16“. Wie kam es zu seinem Engagement?

DJ Hundefriedhof: Wir suchten gerade für das Video zu unserem Track „Ich liebe dich, egal ob du 16 bist“ eine ältere Person. Dann hat die Dramaturgin Nadine Jessen, die wir von unseren Auftritten im Theater Kampnagel kennen, uns an Dietrich Kuhlbrodt vermittelt. Der hat sofort zugesagt. Wir wären genau das, worauf er jetzt Lust habe.

Und warum passt er zu Ihnen?

DJ Hundefriedhof: Er ist ein cooler, total umgänglicher Mensch ohne Allüren. Der legt gleich los, wenn er auf etwas Bock hat, und hat Spaß an der Sache. Ihm gefällt es so gut bei uns, dass er sogar auf Gage verzichtet. So richtig viel könnten wir ihm ohnehin nicht bieten. Aber er war ja auch Staatsanwalt, der wird schon eine ordentliche Rente bekommen.

Ist Herr Kuhlbrodt auch bei Ihren Auftritten dabei? Immerhin ist er schon 80 und auf der Bühne geht es bei HGich.T nicht gerade glimpflich zu.

Maike: Bei Auftritten in und nahe Hamburg ist er mit dabei. Aber weitere Strecken, im Neunsitzer, die macht er nicht mit.

Die Band: Ihr Name steht für „Heute geh ich tot“ und wird „Ha- GehIchTeh“ ausgesprochen. In losen Formationen gibt es die Hamburger schon seit den neunziger Jahren. Erst YouTube machte sie mit ihrem Hit „Hauptschuhle“ 2008 zu einem bekannten Phänomen. Ihr Debütalbum „Mein Hobby: Arschloch“, das neben dem inzwischen zu Kultstatus gelangten Tracks „Hauptschuhle“ auch die Hits „Tripmeister Eder“ und „Tutenchamun“ enthält, wurde 2010 veröffentlicht. Die Mitgliederzahlen der Band schwanken je nach Einsatzgebiet zwischen 10 bis 15 Leuten. Einige der Musiker kommen aus dem Umfeld der Hamburger Kunsthochschule HfBK.

Die Musik: Die Songs von HGich.T zeichnen sich durch eine Mischung aus Hardtrance und Goabeats und schwer verdaulichen Texten über wichtige Themenfelder wie Saufen, Schule und Sex aus. Bei den Auftritten und in den Videos zeigt sich der Performancecharakter von HGich.T. Dabei geht es um den gelebten Exzess: Niemand verlässt den Raum ohne Neonfarbe im Gesicht und dem Schweiß der Fans an den Klamotten.

Vor allem bei Jugendlichen hat HGich.T absoluten Kultstatus erreicht. Wie das?

Maike: Ich habe letztens Post bekommen von einem Azubi, der seine Ausbildung abgebrochen hatte und nicht mehr weiterwusste. Er meinte, wir geben ihm Kraft, weil wir das machen, was wir wollen. Er wolle, wie wir, auch nicht für Halsabschneider arbeiten, die sich die Scheine nur in die eigene Tasche stecken.

DJ Hundefriedhof: Wahrscheinlich stehen wir für diesen Ausnahmezustand von der eigentlichen Lage, dass man arbeiten muss, um Geld zu verdienen.

Und Ihre exzessiven Auftritte machen diesen Ausnahmezustand erfahrbar?

Dr. Diamond: Auf der Bühne herrscht bei uns eine Art rechtsfreier Raum, da werden vor allem die ungeschriebenen, gesellschaftlichen Regeln außer Kraft gesetzt. Da kann sich danebenbenehmen, wer möchte, ohne dafür verurteilt zu werden.

Steckt dahinter Punk-Nostalgie? Ohne sich dem als Lebensform verschreiben zu müssen. Nach dem Motto: eine Stunde ausrasten, und dann wieder in sein biederes Leben zurückkehren?

Karla Knyh: Ich finde es gut, wenn HGich.T ein Ventil sein kann, um zu sagen, heute ist mir alles egal. So völlig aus dem normalen Leben auszusteigen, ist ja auch etwas, wovor sich die meisten hüten. Es wird einem heute so viel Angst gemacht um die eigene Existenz, damit werden die Leute unter Kontrolle gehalten. Dann geht es darum, sich einfach mal für fünf Minuten davon zu befreien und loszulassen.

Dr. Diamond: Unser Mitglied Tutenchamun hat es mal ganz einfach gesagt: Wenn schon, dann schon. Das ist die Idee von Exzess.

Das wird bei Ihnen immer gern mit Drogenkonsum in Zusammenhang gebracht.

Karla Knyh: Es gibt nun mal einige Themen, da horchen die Menschen sofort auf: Wenn es um Drogen geht, aber auch wenn es um Sex, menschliche Tragödien und Verfall geht. Das kickt am besten, aber auch nur dann, wenn es einen nicht selbst betrifft. Niemand möchte ein Junkie sein, der am Hauptbahnhof rumhängt, aber trotzdem gucken alle hin. Niemand möchte Hartz-IV-Empfänger sein, trotzdem interessiert es alle, in was für Löchern die so wohnen. Alle schalten gern den Fernseher ein und schauen sich den Bodensatz der Gesellschaft an. Es ist Voyeurismus, so wie an einem Autounfall vorbeizufahren. Man ist froh, dass man selbst nicht beteiligt ist, und schaut trotzdem auf die Blutenden.

Auch in Ihren Songs werden Hartz IV, Drogen und Sex thematisiert. Sehen Sie das als Persiflage auf diese Art Sensationsgeilheit?

Karla Knyh: So würde ich das nicht sagen. Wir selbst sind davon ja auch nicht völlig ausgenommen.

DJ Hundefriedhof: Man kann unsere Show als Persiflage verstehen, aber man kann aus uns auch ernsthafte Schlüsse ziehen. Ebenso lässt sich das, was wir machen, als Lebensphilosophie sehen. Oder ein bisschen softer einfach als Spaß. Diese Vielschichtigkeit ist ja gerade das Besondere an HGich.T. Und die spiegelt sich auch im Publikum wieder. Da stehen Satanisten, 16-Jährige, VW-Golf-Fahrer Schulter an Schulter. Unser Ziel ist es, alle zu vereinen.

Der Track „Die letzten Titten von Bethlehem“ von Ihrem neuen Album handelt ähnlich wie der Smashhit „Hauptschuhle“ vom Debütalbum vom Scheißebauen in der Schule. Was reizt Sie an der Schule als Themengebiet?

Karla Knyh: Damals, in der Schulzeit, ist viel mehr passiert. Nicht wirklich, aber subjektiv empfunden, war mehr los. Wenn man älter wird, passieren nicht mehr so viele überraschende Sachen. In der Jugend geschieht vieles zum ersten Mal und das ist wahnsinnig aufregend. Deswegen ist die Schule als Thema so spannend.

Ein anderer roter Faden, der sich durch Ihre Videoclips, Bühnenklamotten und Klangwelt spannt, ist die Trash-Ästhetik der Neunziger. Was ist daran reizvoll?

Dr. Diamond: Die meisten von uns sind in den Neunzigern aufgewachsen oder waren damals jung. Und wenn es, wie damals, grässlich bunt ist, wenn die Neonfarben leuchten, dann geht es allen ein bisschen besser.

DJ Hundefriedhof: Es hat auch viel damit zu tun, wie man mit wenigen Mitteln Effekte erzielt. Was die Videos angeht, ist es zum Beispiel eine einfache Art, Witz zu vermitteln. Wenn, wie im Video zu „Goa Goa MPU“ sich das Rad vom fahrenden Motorrad nicht dreht, ist das sehr lustig.

Sehen Sie sich eigentlich eher als Musiker oder als Performancekünstler?

Maike: Bei uns gibt es beides, auch innerhalb der Gruppe.

DJ Hundefriedhof: Auf der Steuererklärung steht Performancekünstler. Wir sind aber auch Cutter, Grafikdesigner, Kameramänner und -frauen. Da gibt es mal erst einen Text, mal erst die Musik, mal erst ein Video. Diese Mischformen sind auch letztendlich am wirksamsten. Die Kombination aus allem, was geht, ist toll. Und was gibt es Schöneres, als gemeinsam mit vielen Freunden daran zu arbeiten?

HGich.T: „Lecko Grande“ (Tapete/Indigo), live: 10. 11. Krefeld, 17. 11. Frankfurt am Main
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