Hamburger Gängeviertel feiert Geburtstag: Das gallische Dorf lässt bitten

Gehackte Algen und twerkende Hintern. Die Geburtstagsfeier des Hamburger Gängeviertels ist nach wie vor frei von Routinen.

Eine mit einem lachenden Gesicht bemalte Satellitenschüssel an einer Hauswand.

Kunst aller Art draußen und drinnen: Fassade im Hamburger Gängeviertel Foto: Klaus Irler

Es ist schon ein paar Jahre her, da gab es diese Postkarte mit dem Schriftzug „Grüße aus dem Gängeviertel“. Um die Schrift herum waren Fotos der Innenhöfe, der Fassadenkunst oder der Jupi-Bar angeordnet. Als wären sie so etwas wie der Eiffelturm in Paris oder die Berliner Gedächtniskirche.

Tatsache ist: Nach wie vor ist das Gängeviertel eine Hamburger Besonderheit. Als gallisches Dorf mitten in der aufgebretzelten Innenstadt wird es von Menschen bewohnt, die ein Leben und Arbeiten jenseits von Profit und Konkurrenz verwirklichen wollen. Mittlerweile ist das Kollektiv als Genossenschaft organisiert und hat die zwölf Gebäude von der Stadt gepachtet. Mitmachen kann jede*r: Das Gängeviertel ist ein offenes soziokulturelles Projekt.

Jedes Jahr im August feiert das Viertel Geburtstag, also den Jahrestag der „Besetzung“, mit der das Projekt 2009 ins Rollen gebracht wurde. Dass das Ganze keine Feier, sondern ein Festival ist, sieht man an den drei Dixi-Klos, die zur Entlastung der bestehenden Infrastruktur aufgebaut sind. Man sieht es an den Einlassbändern, die gegen eine Spende erworben werden können – „wir empfehlen zehn bis 15 Euro“, heißt es an der Kasse. Und man sieht es an den Besucher*innen, die mehrheitlich Wert auf kreative Kleidung legen. Zwei Pfeiler, auf denen das Projekt steht, sind die Kunst und eine linke Gesinnung.

Ergo gibt es in den Höfen und Konzerträumen nicht nur elektronische Musik, Bands und Ausstellungen, sondern auch so etwas wie die Zwillenbude: eine Jahrmarktbude, bei der man mit Zwillen auf gezeichnete Pappbilder schießt. Diese zeigen einen Polizisten, einen Polizeibus und einen Burschenschaftler. Geschossen wird mit Korken aus Weinflaschen.

Bis die Polizei kommt

Einen Hinterhof weiter strecken sich rund 100 Hintern in die Luft, davon gehören geschätzt 98 zu weiblich gelesenen Personen und zwei zu männlich gelesenen. Die Leute gehen in die Hocke, spreizen die Beine und schütteln die Pobacken zu einem treibenden Beat. Auf der Bühne steht eine junge Frau in Hot Pants und sagt, was zu tun ist: Jetzt alle nochmal runter, jetzt mit den Pobacken im Wechsel zucken und jetzt das Gesäß in die Höhe.

Vom Format her ist das wie ein Kurs im Fitnessstudio, inhaltlich sieht es aus wie eine Übung für den Stripclub. Bei längerem Zusehen scheint es aber doch eher ein Körperwahrnehmungstraining für die Beckenregion zu sein. Das Ganze heißt Twerking und ist als Ausdruck sexpositiver weiblicher Selbstbestimmung gemeint.

Auch eigen ist die Verpflegung, zum Beispiel Okonomiyaki. Dabei handelt es sich um japanische Pfannkuchen, allerdings ohne Eier und Thunfischflocken – die lassen sie weg, damit das Gericht vegan wird. So entsteht eine Art Reibekuchen, fettig, geschmacklich dominiert von einer ketchupartigen Sauce, die in Kombination mit den gehackten Algen und den Lauchzwiebeln einen undefinierbar klobigen Geschmack ergibt. Keine kulinarische Entdeckung macht aber satt. Spendenempfehlung: fünf Euro.

Sehr angetan von seinem Okonomiyaki ist ein junger Typ mit Rastas. Auf die Frage, ob es eine lange Nacht für ihn wird, sagt er: „Nein, wir haben morgen ein Treffen.“ Und dann erzählt er von der Gruppe Leuten, mit der sie Techno-Partys veranstalten wollen, und von den Neuen in der Gruppe, die das Projekt in eine falsche Richtung bringen. „Deshalb müssen wir über eine Struktur entscheiden, wie wir Entscheidungen treffen. Dafür gibt es ein Vortreffen. Und morgen machen wir ein Vortreffen für dieses Vortreffen, damit beim Vortreffen nichts schiefgeht.“

Zwei Pfeiler, auf denen das Projekt steht, sind die Kunst und eine linke Gesinnung

So ähnlich wird es beim Gängeviertel auch gewesen sein. Vielleicht ist es auch immer noch so: Am späten Sonntagnachmittag löst sich das Festival langsam auf. Eine Künstlerin baut ihre Ausstellung ab und ist nicht glücklich darüber, dass sie schon Schluss machen soll. Die Polizei kommt, weil jemand die Ü60-Tanzparty zu laut findet. Der Bewegungsraum im Haupthaus ist nicht mehr zugänglich, da heißt es: „Das hier ist privat.“

Die Mühen der Ebene müssen gewaltig sein bei diesem Projekt. Es ist tatsächlich ein Grund zum Feiern, dass es weiterhin genug Leute gibt, die sich davon nicht abhalten lassen.

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Jahrgang 1973, fing als Kultur-Redakteur der taz in Bremen an und war dann Redakteur für Kultur und Gesellschaft bei der taz nord. Als Fellow im Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School beschäftigte er sich mit der digitalen Transformation des Journalismus und ist derzeit Online-CvD in der Norddeutschland-Redaktion der taz.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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