DFB-Pokalspiel St. Pauli gegen HSV: Die Ultras zum Derby

Zu Hamburgs größtem Frauenfußballspiel aller Zeiten kommen fast 20.000. Am Millerntor sind wie stets Pyros im Spiel, nur ohne Testosteronüberschuss.

Fans von St. Pauli brennen im Millerntor-Stadion beim Derby St. Pauli gegen den HSV Pyrotechnik ab

Stimmung beim Derby im Millerntor-Stadion Foto: picture alliance/dpa/Axel Heimken

Tiefe Glockentöne dröhnen durchs Stadion. Spätestens, als die Bratzgitarre dazwischen sägt, weiß jeder über 50: Es sind die „Hells Bells“ von AC/DC. Leuchtraketen steigen auf, Rauch wabert über den Rasen. Beim Anpfiff ist auf dem Spielfeld kaum etwas zu erkennen.

Ein ganz normaler Freitagabend am Millerntor auf St. Pauli. Oder? Als der Rauch verfliegt, ist zu sehen: Hier ist gar nichts normal. Auf dem Rasen stehen keine durchtrainierten Profi-Athleten mit raspelkurzen Frisuren, sondern 22 Frauen, die meisten mit Pferdeschwänzen, die beim Laufen wippen.

Es ist DFB-Pokal, zweite Hauptrunde. Gastgeberinnen sind die Ersten Frauen des FC St. Pauli, die sonst auf einem Kunst-rasenplatz vor dem Stadion vor 200 Zu­schaue­r:in­nen kicken. Zu Gast sind die HSV-Frauen. Hamburger Derby also, und das erklärt, warum heute alles anders ist als üblich im Frauenfußball.

Etwa, dass 19.170 Menschen das Spiel sehen wollen. Und dass die Ultras beider Seiten voll dabei sind. Sie haben die Pyros gezündet. Und sie versuchen ständig, einander mit Gesängen zu überbieten. „Scheiß St. Pauli“, tönt es aus dem Gästeblock. Die Ultrà St. Pauli verzichten auf den üblichen Schmähgesang „We hate the Volkspark bastards“, antworten einfach mit „Allez, allez St. Pauli!“.

Ein neuer Stolz der Peripherie, gegen die urbanen Besserverdiener gewendet

Mit feinerer Klinge geht es auf den Transparenten zu: Mit einem schlichten „Clase obrera“, spanisch für „Arbeiterklasse“, auf den Vereinsfarben blau-schwarz, necken die HSV-Fans jene von St. Pauli, von denen viele zwar mit der Arbeiterklasse sympathisieren, selbst aber einen bürgerlichen Hintergrund haben. Auf einem anderen Banner steht: „Wir fahren nach Hause, ihr müsst hier wohnen.“ Ein neuer Stolz der Peripherie, gegen die urbanen Besserverdiener gewendet.

Das Stadion ist zu zwei Dritteln gefüllt. Mehr Menschen waren in Hamburg noch nie bei einem Frauenfußballspiel. Der bisherige Rekord, gut 12.000 Zuschauer:innen, ist schon 12 Jahre alt. Es spielte die Nationalelf, damals noch eine Weltmacht, gegen das Spitzenteam aus Schweden.

Heute liegen die Dinge anders: Die HSV-Frauen sind gerade in die Zweite Bundesliga aufgestiegen und wollen in die erste. Die St. Paulianerinnen hoffen, aus der dritten Liga nicht abzusteigen. Aber im Pokal, ist da nicht alles möglich? Das werden sich so manche gedacht haben, die vor allem da sind, weil es mal Karten fürs Millerntor gab. Für die Spiele der Männer-Profimannschaft werden auf St. Pauli Wartelisten geführt.

Viele Fans wirken konsterniert, als St. Paulis Frauen nach zehn Minuten mit 0:2 hinten liegen. So hatten sie sich das nicht vorgestellt. Dabei könnte es längst viel schlimmer stehen, die HSV-lerinnen wirken eher zwei Klassen stärker als eine. Das ist symptomatisch für den Frauenfußball, wo die Leistungsdichte viel geringer ist als bei den Männern. Selbst in der Bundesliga gibt es regelmäßig Ergebnisse jenseits der Schmerzgrenze.

St. Paulis Ultras lassen sich nicht verdrießen, machen einfach weiter mit ihrem lauten Support. Was auf dem Feld geschieht, scheint ihnen egal zu sein. Ultras feiern ihre Farben – und sich selbst. Dafür brauchen sie weder Spitzenfußball noch bekannte Idole oder Testos­teronüberschuss auf dem Platz.

Einmal geraten doch zwei Spielerinnen aneinander, bauen sich voreinander auf wie im Fernsehen (das an diesem Abend auch da ist). Nur mit einem Meter mehr Abstand. Kopfnussgefahr: null. Trotzdem pfeift die Schiedsrichterin sie sofort heran. Im Wegtrotten reichen sie einander flüchtig die Hand.

Als es 0:7 steht, haben sich längst alle St.-Pauli-Anhänger:innen damit abgefunden, dass es an diesem Abend nichts zu holen gibt. Die Stimmung ist trotzdem ausgelassen. Als in der Nachspielzeit noch das 1:7 gelingt, bricht unbändiger Jubel los. Noch zehn Minuten nach Abpfiff applaudiert ganze Stadion stehend.

Dann macht sich in dieser lauen Sommernacht eine ungewohnte Leichtigkeit breit. Man plaudert und geht entspannt nach Hause oder noch auf ein Bier. Die Polizei steht ganz umsonst an der U-Bahn und langweilt sich.

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Jan Kahlcke, war von 1999 bis 2003 erst Volontär und dann Redakteur bei der taz bremen, danach freier Journalist. 2006 kehrte er als Redaktionsleiter zur taz nord in Hamburg zurück

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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