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Hamburger Ausstellung zum JugendstilNichts als Verbrechen im Zinn

Die Ornamentik des Jugendstils ist undenkbar ohne Zinn-Boom. Hamburgs Museum für Kunst und Gewerbe erzählt die dunkle Geschichte dieses Materials.

Als Messerbänkchen für die Tafel: Katze aus Zinn Foto: Roman Mishchuk/MKG

Hamburg taz | Zinn wird seit der Vorgeschichte abgebaut und verarbeitet. Auch aus der Antike gibt es Nachweise für die Verwendung des sehr weichen Metalls vor allem als Schmuckornament. Im europäischen Mittelalter allerdings war Zinn vergleichsweise unpopulär, der Abbau kam fast vollkommen zum Erliegen. Erst im Jugendstil erlebte das Material einen neuerlichen Aufschwung – und hier setzt die kleine Ausstellung „Zinn – von der Mine ins Museum“ am Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe an.

War hier ursprünglich eine Sammlungspräsentation geplant, die den hauseigenen Bestand an Jugendstil-Zinnobjekten zugänglich machen sollte, so haben die Kuratorinnen Viktoria Lea Heinrich vom Museum und Kaja Ninnis vom Institut für Kulturwissenschaft der Berliner Humboldt-Uni im Laufe der Vorbereitungen entschieden, sich auf das Material zu konzentrieren. Und auf die Frage, wie die Eigenschaften von Zinn sich (im Wortsinne) in Gebrauchskunst gießen lassen, im Jugendstilfall: in Teller, Becher, Dekoartikel.

Das Material bestimmt seine spätere Bestimmung als (Kunst-)Objekt selbst, mit diesem Zugriff ist das Haus ganz bei sich selbst, das ja eben kein Kunstgewerbemuseum ist, sondern eines für Kunst UND Gewerbe, ein Haus, das eine Zwischenposition jenseits des Kunsthandwerks einnimmt. Und diese Zwischenposition bildet sich im Jugendstil-Boom von Zinn ab.

Denn: Zinn als Material und Jugendstil als künstlerisches Konzept sind wie füreinander gemacht, das zeigt die Ausstellung mustergültig. Das ästhetische Programm des Jugendstils, die Darstellung von floralen Motiven und einer in Bewegung begriffenen Ornamentik, lässt sich mit Hilfe des leicht formbaren Materials mit seinem niedrigen Schmelzpunkt optimal umsetzen.

Mitten im Industrialisierungsschub

Dazu kommt: Zinn war deutlich preiswerter als das optisch vergleichbare Silber, die bürgerliche Oberschicht des späten 19. Jahrhunderts konnte sich große Mengen des Metalls leisten.

Zudem war der Jugendstil auch eine Übergangsphase, der letzte große Industrialisierungsschub, durch den Manufakturen zu Fabriken wurden. Die Zinnindustrie, deren Zentren in Deutschland sich in Köln und Lüdenscheid konzentrierten, war da mittendrin, ebenso wie das 1877 gegründete Museum für Kunst und Gewerbe als Institution, die diese Entwicklung fleißig dokumentierte.

Und dabei überraschend viele Leerstellen ließ. Bei den meisten der ausgestellten Objekte ist zwar klar beschrieben, was zu sehen ist, nur in Bezug auf das Material liest man häufig: „Herkunft Zinn: unbekannt“. Für Heinrich und Ninnis, die hier eine Material- statt einer Objektbiografie erzählen wollen, ist das fatal. Aber diese Leerstelle sagt auch etwas aus über die Objektkonzentration üblicher Jugendstil-Präsentationen.

Denn es ist ja nicht so, dass sich über dieses Material nichts sagen ließe: Ende des 19. Jahrhunderts waren die Hauptabbauländer von Zinn-Erz das südenglische Cornwall, Bolivien, sowie Teile der heutigen Staaten Indonesien und Malaysia. Massive Umweltschäden verursachte der Abbau schon damals.

Bei den meisten der ausgestellten Objekte liest man in Bezug aufs Material: Herkunft Zinn: unbekannt

Zugleich ist der Zinnabbau in Südamerika und Südostasien genau wie der Zinn-Boom am Ende des 19. Jahrhunderts untrennbar mit den Verbrechen des europäischen Kolonialismus verknüpft. Die Ausstellung thematisiert, dass man hier an schmerzhafte Erinnerungen rührt. Und muss dann kapitulieren. „Herkunft Zinn: unbekannt.“

Die Leerstelle füllen überall im Raum verteilte Notizbücher, Materialbiografien, die von Kulturwissenschafts-Studierenden der Humboldt-Uni geschrieben wurden. Das sind mal spekulativ, mal literarisch anmutende Objekte, künstlerische Interventionen, die versuchen, Leerstellen zu füllen, die die Ausstellung mit ihrem dokumentarischen Anspruch offenlassen muss.

Darüber hinaus gibt es eine zweite zeitgenössische künstlerische Position, von Natascha Burk, die mittels Zinngussand Alltagsobjekte in Naturoptik gießt, die so einen interessanten Widerhall der Naturidealisierung aus dem Jugendstil darstellen.

Der Zinngussand – geölter, feiner Sand, aus dem sich Negativformen für den Guss modellieren lassen – ist ein hübsches Ausstellungsdetail, das in praktisch allen Vitrinen auftaucht und die Präsentation vor dem Abgleiten ins Dröge schützt.

Ausstellung „Zinn. Von der Mine ins Museum“, Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, www.mkg-hamburg.de. Bis 10.8.

Ohnehin hat Ausstellungsdesignerin Inga Berit Reutershan die kleine Schau interessant aufgebaut, als abwechslungsreichen Parcours zwischen Erklärtafeln, Sammlungsstücken von Designern wie Peter Behrens, Jules Desbois und Joseph Maria Olbrich sowie den künstlerischen Interventionen der Studierenden.

So hübsch, dass die Leerstellen schmerzlich auffallen und das auch sollen. Ein Schmerz, der bis heute spürbar ist: Der umweltschädliche Abbau von Zinn wird auch im Jahre 2025 noch praktiziert. Wenn auch nicht für Ornamentkunst, sondern für den Alltag – Zinn ist heute unverzichtbar für diverse elektronische Bauteile.

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