Haftstrafe bei Fahren ohne Fahrschein: Besser ins Krankenhaus statt ins Gefängnis
Der Freiheitsfonds kauft Menschen frei, die wegen Schwarzfahrens festgenommen wurden. Der jüngste Fall zeigt, wie unangebracht die Kriminalisierung ist.

In Telefonaten zwischen der Anstaltsärztin und der Ärztin des Polizeigewahrsams sei die Gefahr einer Amputation diskutiert worden. Die Polizist*innen brachten ihn daraufhin ins Krankenhaus. So berichtet es ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Justizministeriums der taz, der den Fall rekonstruieren ließ. „Parallel telefonierten Bedienstete der Anstalt mit der Staatsanwaltschaft zwecks Herbeiführung einer Haftunterbrechung“, erklärt der Sprecher. Damit hätte die Gefängnisstrafe zwar nicht abgewendet, aber verschoben werden können, bis der medizinische Notfall geklärt wäre. Gleichzeitig sei auch der Freiheitsfonds kontaktiert worden. Zwischenzeitlich sei dann festgestellt worden, dass der Mann auch in der JVA behandelt werden könne, und er wurde eingeliefert.
Beim Freiheitsfonds war die Geschichte etwas anders angekommen. Eine JVA habe ihn kontaktiert, weil einem Gefangenen „die Beine amputiert werden müssen“, schrieb Arne Semsrott, Gründer des Freiheitsfonds, am Donnerstag auf der Social-Media-Plattform Bluesky. „Dafür müssten aber Beamte mit ins Krankenhaus, und wegen Personalmangel geht das nicht. Ob wir ihn also schnell freikaufen könnten?“ Denn das ist genau der Zweck der 2021 gegründeten Initiative: Sie zahlt die Geldstrafen für Menschen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein im Gefängnis sitzen, um sie zu befreien. So auch in diesem Fall.
Der Justizsprecher bestätigt der taz, dass der Mann daraufhin entlassen wurde. Allerdings: „Der behauptete Personalmangel bestand zu keinem Zeitpunkt. Ganz im Gegenteil, es waren ja ab 17 Uhr zwei Vollzugsbedienstete zur Bewachung im Krankenhaus vor Ort.“
Kriminalisierung von Fahren ohne Fahrschein ist sinnlos
Semsrott sieht jedoch ein generelles Problem. „Dieser Fall zeigt wieder einmal, wie sinnlos und ungerecht die Kriminalisierung von Fahren ohne Ticket ist“, sagte er der taz. „Statt Menschen in Krisensituationen zu unterstützen, werden sie durch Gefängnisstrafen tiefer in Krisen gestoßen. Statt immense Ressourcen für die Strafverfolgung aufzuwenden, müssen soziale Angebote ausgebaut werden.“
Oft befänden sich Menschen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein ins Gefängnis kämen, in Ausnahmezuständen, sagt Semsrott, körperlich wie psychisch. Die Beschäftigten seien dafür nicht ausgebildet und schnell überfordert. „Die Person kommt dann in einen besonders gesicherten Haftraum, beruhigt sich nicht, und dann werden wir angerufen, um sie rauszuholen.“ Meist von Beschäftigten aus den sozialen Diensten.
Wer bei Kontrollen keinen Fahrschein vorzeigen kann, kann wegen „Erschleichens von Leistungen“ angeklagt werden und bis zu einem Jahr ins Gefängnis kommen. Das regelt Paragraf 265a des Strafgesetzbuchs – eingeführt im Jahr 1935 von den Nazis. Der Freiheitsfonds fordert, das Fahren ohne Fahrschein zu entkriminalisieren und den ÖPNV kostenlos nutzbar zu machen.
Am 1. September ruft sie zum 14. Mal zu einem sogenannten Freedom Day auf. „Dieser Tag ist historisch: Denn vor genau 90 Jahren – am 1. September 1935 – wurde jenes Gesetz eingeführt, das bis heute Menschen wegen fehlender Tickets in Bus und Bahn ins Gefängnis bringt“, heißt es auf der Homepage der Initiative. Laut Semsrott sollen an dem Tag 100 Menschen befreit werden.
Strafrecht sollte nicht private Geldforderungen durchsetzen
Seit Jahren diskutieren die Justizminister*innen der Länder und das Bundesjustizministerium über die Abschaffung von Haftstrafen bei Fahren ohne Fahrschein. Im Februar 2025 wurde immerhin die Haftzeit halbiert: Für zwei Tagessätze Geldstrafe gibt es nur noch einen Tag Gefängnis.
Dem grün geführten Justizministerium von Nordrhein-Westfalen geht das nicht weit genug. Justizminister Benjamin Limbach sagte der taz: „Die Strafbarkeit beim Fahren ohne Fahrschein gehört abgeschafft – besser heute als morgen. Ein Gesetzentwurf des Bundes ist dazu aus meiner Sicht überfällig.“ Jeder ersparte Tag einer Ersatzfreiheitsstrafe sei ein Gewinn für das Land, die betroffenen Menschen und den Steuerzahler. Limbach fügt hinzu, dass es „im Kern nur darum geht, mit Mitteln des Strafrechts eine private Geldforderung durchzusetzen“.
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