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Häusliche Gewalt in GroßbritannienNeues Gesetz für mehr Opferschutz

Mitten in der Pandemie sind England und Wales dabei, ein neues Gesetz zu verabschieden. Zuvor waren alarmierende Zahlen veröffentlicht worden.

Verlassene Straßen im Londoner Lockdown. Doch was passiert hinter verschlossenen Türen? Foto: AP Photo/Frank Augstein

London taz | Mitten in der Pandemie könnten England und Wales bald ein neues Gesetz zu häuslicher Gewalt bekommen, das Opfern mehr Schutz bieten soll. Es steht kurz vor der Verabschiedung, Schottland und Nordirland haben eine eigenständige Gesetzgebung. Die Initiative geht noch auf die Zeit der früheren Premierministerin Theresa May zurück – doch in der Coronakrise gibt es nun eine erhöhte Aufmerksamkeit.

Denn auch aus Großbritannien kommen traurige Rekordzahlen: Die Hilfegesuche von Opfern, die zu Hause Gewalt ausgesetzt sind, haben sich seit den Ausgangsbeschränkungen laut der nationalen Notrufnummer um durchschnittlich 25 Prozent erhöht. Die Organisation Refuge, welche das Angebot leitet, verzeichnete nach eigenen Angaben an einem Tag sogar 700 Prozent mehr Anrufe als sonst.

Zwischen Beginn des Lockdowns am 23. März und dem 12. April wurden überdies 16 Frauen im eigenen Heim ermordet. In den letzten zehn Jahren habe es in diesem Zeitraum hingegen nur durchschnittlich fünf Todesfälle gegeben, sagt Karen Ingala Smith, die Gründerin der Organisation Counting Dead Women. Insgesamt waren im statistischen Vorjahr (endete März 2019) laut dem britischen statistischen Amt in Großbritannien 2,4 Millionen Opfer häuslicher Gewalt im Alter zwischen 16 und 74 Jahren, davon waren 786.000 Männer.

Die alarmierenden Hinweise der Hilfsorganisationen wurden in den britischen Medien vielfach diskutiert. Als es zum Tag der Debatte über den Gesetzentwurf kam, billigte die Regierung schon am Morgen eine Sonderzahlung von 76 Millionen Pfund (umgerechnet 87 Millionen Euro) für Opfer häuslicher Gewalt.

Gesetz definiert häusliche Gewalt nicht nur körperlich

Das neue Gesetz soll nun unter anderem klarstellen, dass unter häuslicher Gewalt nicht nur Körperverletzung zu verstehen ist, sondern auch, wenn etwa jemand im häuslichen Kontext Geldentzug als Druckmittel einsetzt oder es zu psychischer Misshandlung kommt. Lokalbehörden und Polizei sollen neue Möglichkeiten bekommen, um gegen Täter vorzugehen und Opfer zu schützen.

Lockdown mit dem Täter

Schon im April sprach UN-Generalsekretär António Guterres von einem weltweiten Ansteig von häuslicher Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Hilfsorganisationen vieler Ländern warnen, dass sie mehr Hilferufe empfangen – andere fürchten eine extrem hohe Dunkelziffer. Vier Korrespondenten berichten, eine Redakteurin kommentiert.

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Die Anwältin Harriet Wistrich von der Organisation Centre for Women’s Justice bestätigte, dass die Coronakrise womöglich zu einem stärkeren Bewusstsein für häusliche Gewalt geführt haben könnte. „Wir waren alle überrascht, dass die Regierung den Gesetzentwurf zur Debatte stellen würde.“ Sie hofft nun, dass der Entwurf auch sorgfältig geprüft werde, obwohl die Abgeordneten teilweise nur per Zoom an den Unterhaussitzungen teilnehmen.

Wistrich selbst hat im Gesetzentwurf einen Mangel entdeckt. Nach ihrer Erfahrung mit verschiedenen Fällen redeten sich Männer oft damit heraus, dass Verletzungen als Versehen infolge von einvernehmlichem „hartem Sex“ passiert seien. Das müsse unzulässig werden, gerade bei Todesfällen.

Wistrich bezweifelt, dass es mit dem neuen Gesetz getan ist, weil die Polizei auch jetzt nicht alle zur Verfügung stehenden Mittel nutze. Mit Rechtsklagen müsse ihre Organisation oft Nachhilfe leisten, etwa weil bei der Kategorisierung eines Falles Fehler gemacht wurden. „Wenn die Polizeidienstkräfte einen Vorfall nicht als potenzielle häusliche Gewalt aufnehmen, fehlt Opfern oft der ihnen zustehende persönliche und rechtliche Schutz.“

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