Häusliche Gewalt in Armenien: Männer werden zur Belastung
Üblicherweise gehen viele Armenier im Sommer ins Ausland arbeiten. Unter der Quarantäne lassen sie ihren Frust an den Familien aus.
Seit zehn Jahren leitet Gevorgjan ein Frauenhilfezentrum in Armenien. Das ist die einzige Organisation, die zwei Frauenhäuser – die einzigen landesweit – in der Hauptstadt Jerewan betreibt. Bis zu zwölf Frauen mit ihren Kindern können gleichzeitig dort untergebracht werden. Dazu mietet das Zentrum auch einzelne Wohnungen an.
2010 schloss sich das Frauenhilfezentrum mit sechs anderen Menschenrechtsorganisationen zur „Koalition zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen“ (kurz Frauenkoalition) zusammen.
In der Südkaukasusrepublik mit knapp 3 Millionen Einwohnern werden etwa 2.000 Frauen jährlich Opfer familiärer Gewalt. Die Frauenkoalition hat von 2010 bis 2019 70 Morde an Frauen dokumentiert, die Dunkelziffer dürfte höher liegen. 2019 hat die Hotline über 5.000 Anrufe registriert.
30 Prozent mehr Hilfegesuche
Doch jetzt, in Zeiten der Coronapandemie, spitzt sich die Lage zu. Allein im vergangenen März hat die Frauenkoalition 803 Anrufe erhalten. „Das ist ein Plus von etwa 30 Prozent“, sagt Gevorgjan. Mit ein Grund für den drastischen Anstieg häuslicher Gewalt sei der Ausnahmezustand, den die Regierung Mitte März verhängt hat. Die strikte Quarantäne führe zu Arbeitslosigkeit, geringeren Einkommen und weiterer Verarmung. Dadurch werde das Problem häuslicher Gewalt verschärft.
Schon im April sprach UN-Generalsekretär António Guterres von einem weltweiten Ansteig von häuslicher Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Hilfsorganisationen vieler Ländern warnen, dass sie mehr Hilferufe empfangen – andere fürchten eine extrem hohe Dunkelziffer. Vier Korrespondenten berichten, eine Redakteurin kommentiert.
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Die Menschenrechtlerin Zaruhi Hovhannisjan koordiniert die Arbeit der Koalition. Sie führt den Anstieg der Zahlen auch noch auf andere Ursachen zurück. Viele armenische Männer sind Arbeitsmigranten. Sie verdienen ihr Geld vor allem in der Russischen Föderation.
Ihre Zahl wird auf bis zu 250.000 jährlich geschätzt, genaue statistische Daten gibt es nicht. Vor allem kleine Städte und Dörfer, in denen Frauen, Kinder und Alte mehrere Monate im Jahr unter sich sind, leben von diesen Überweisungen. 2018 machten die Transfers rund 12 Prozent des armenischen BIPs aus.
Wegen Corona ist der Weg der Arbeitsmigranten jetzt blockiert. Seit dem 1. März sind 63.000 BürgerInnen nach Armenien zurückgekehrt – hauptsächlich Männer aus Russland. Zu Hause lebten sie ohnehin schon in beengten Verhältnissen, zu denen jetzt auch noch die Quarantäne komme, sagt Hovhannisjan.
Drei Generationen auf 60 Quadratmetern
Armenierinnen und Armenier pflegen ihre Familientradition oft unabhängig von ihrem sozialen Status. Oft teilen sich Großeltern, Eltern und Kinder nicht einmal 60 Quadratmeter Wohnraum. Hier herrscht nach wie vor das Patriarchat. Die Frau hat eine untergeordnete Rolle.
Hasmik Gevorgjan rechnet auch nach dem Ende des Ausnahmezustands mit einem weiteren Anstieg von Gewalt in den Familien. Denn normalerweise gehen die Männer vor allem in den Frühlings- und Sommermonaten zum Arbeiten ins Ausland. Doch diese Möglichkeit entfällt jetzt. „Die Hoffnung der Frauen, wenigstens in der Gastarbeitersaison in Frieden leben zu können, ist verloren gegangen“, sagt Gevorgjan.
Um dem sozialen Absturz vieler Familien entgegenzuwirken, hat die Regierung versprochen, die Männer in der Bau- und Landwirtschaft zu beschäftigen, wenn die Coronakrise vorbei ist. Doch wann das sein wird, weiß niemand. Denn das Virus verbreitet sich weiter. Offiziellen Angaben zufolge wurden bis jetzt 2.619 Infektionsfälle gemeldet, 40 Menschen starben in Zusammenhang mit Corona. (Stand vom 5. Mai). Dennoch wurden die strengen Ausgangsregelungen an diesem Wochenende erstmals etwas gelockert.
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