Häusliche Gewalt im Lockdown: „Wir müssen alle hinschauen“
Die Fälle häuslicher Gewalt könnten wieder steigen, sagt Berlins grüne Fraktionschefin Silke Gebel. Sie fordert einen Notfallcode für Schüler.
taz: Frau Gebel, befürchten Sie erneut eine Zunahme häuslicher Gewalt im Lockdown?
Silke Gebel: Der Lockdown ist notwendig, birgt aber Risiken und hat Nebenwirkungen, was sich wahrscheinlich wieder in einer Zunahme häuslicher Gewalt niederschlägt. Zumal die Weihnachtszeit immer traurige Tage sind, was häusliche Gewalt angeht.
Sie fordern via Twitter „breite Schutzstrukturen, damit die Kinder und Jugendlichen, die häusliche Gewalt erleben, gut über den Lockdown kommen“. Wie sollten die aussehen?
Ich greife hier zum Beispiel den Vorschlag eines Notfallcodes auf, den Lehrerinnen und Lehrer an ihre Schülerinnen und Schüler kommunizieren können. Sollten jene dann tatsächlich häusliche Gewalt erfahren, können sich so diskret an ihre Lehrerinnen und Lehrer wenden mit der Botschaft: „Hier ist es eskaliert, ich brauche bitte Unterstützung.“
Warum über die Lehrerinnen und Lehrer?
Weil ein Anruf bei der Polizei für viele Kinder und Jugendliche vielleicht eine Stufe zu hoch ist.
Die Hürde, die die Kinder und Jugendlichen überwinden müssen, ist, ihre Lehrerinnen und Lehrer anzurufen.
Es kann auch per E-Mail passieren oder über andere Kommunikationswege.
Silke Gebel
37, leitet zusammen mit Antje Kapek die Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, dem sie seit 2012 angehört.
Auf die Lehrerinnen und Lehrer kommen in den nächsten Tagen mit der Vorbereitung des Homeschoolings viele Aufgaben zu. Sind sie nicht überfordert, wenn sie jetzt auch noch erste Anlaufstelle für häusliche Gewalt sein sollen?
In einer funktionierenden Lehrer-Schüler-Beziehung besteht ein großes Vertrauensverhältnis. Ich glaube, dass Lehrerinnen und Lehrer, die ihren Beruf mit Leidenschaft begreifen – und ich kenne sehr viele –, bereit sind, die Aufgabe in dieser Situation auf sich zu nehmen. Viele sorgen sich ja um ihre Schülerinnen und Schüler. Aber dieser Notfallcode kann natürlich nur ein Baustein sein. Wir müssen alle Schutzmechanismen hochfahren, damit die Gewaltspirale nicht so eskaliert wie beim ersten Lockdown.
Was waren die Lehren aus dem ersten Lockdown in dieser Hinsicht?
Ich fand besonders schockierend, dass sich das Dunkelfeld häuslicher Gewalt erst gegen Ende des ersten Lockdowns gezeigt hat – weil es keine Kontaktmöglichkeiten gab. Erst im Juni war letztlich klar, wie enorm die Gewalt zugenommen hatte. Wir brauchen also einen Schutzschirm gegen häusliche Gewalt, weil wir kein Kind und keine Frau im Stich lassen wollen.
Was könnte Berlin noch schnell umsetzen?
Aus Italien kommt die Idee, dass auch in Supermärkten Gewaltschutzberatung stattfinden kann. Denn die sind ja weiterhin offen und gehören zu den wenigen Räumen, in denen Opfer von Gewalt sich noch frei bewegen können. Wir brauchen eine große Informations- und Awareness-Kampagne. Und die Polizei muss sich auf vermehrte Einsätze wegen häuslicher Gewalt vorbereiten und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch stärker für das Thema sensibilisieren.
Was macht die Politik?
Wir sorgen dafür, dass die Familiengerichte weiter funktionieren und Familienschutzanträge bearbeiten können. Auch die Jugendämter werden weiter arbeiten können.
Gerade bei Letzteren gab es im ersten Lockdown das Problem, dass sogar Diensthandys fehlten.
Mehr Gewalttaten Die Zahl der Gewalttaten zu Hause war im und nach dem ersten Lockdown deutlich gestiegen. "Alle Befürchtungen, die wir hatten, haben sich bewahrheitet", hatte Saskia Etzold, Leiterin der Berliner Gewaltschutzambulanz, Anfang Juli mitgeteilt. "Wir hatten schwerste Verletzungen. In fast allen Fällen spielten Brüche eine Rolle oder Gewalt gegen den Hals." So habe die Gewaltschutzambulanz im Juni 2020 einen Anstieg von 30 Prozent der Fälle im Vergleich zum Juni 2019 verzeichnet. Die Zahl der Kindesmisshandlungen sei im ersten Halbjahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr 23 Prozent gestiegen.
Schwierige Erfassung Zunächst hatten die Behörden während des Lockdowns weniger Fälle registriert. Das habe daran gelegen, dass kaum jemand vor die Tür gegangen sei, erklärte dies der zuständige Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne). Mit den Lockerungen seien die Fallzahlen sofort in die Höhe geschnellt. "Corona trifft Frauen und Kinder besonders hart", so Behrendt mit Blick auf Gewalttaten. Es habe deutlich mehr Anzeigen bei den Strafverfolgungsbehörden gegeben. Die Zahl der Verfahren an den Familiengerichten sei im ersten Quartal 2020 um 7,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. (dpa, taz)
Ich erwarte, dass die Bildungsverwaltung da nachgebessert hat, und wenn nicht, muss man die nächsten Tage dringend dafür nutzen, digitale Endgeräte anzuschaffen. Es kann nicht sein, dass eventuell ein Gewaltvorfall nicht entdeckt wird, weil es im Jugendamt keine Handys gibt.
Sie haben mehr Awareness – also mehr Aufmerksamkeit für das Thema – gefordert. Wenn es nicht gelungen ist, jene in der Zeit seit dem ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr zu schaffen, ist es dann nicht jetzt zu spät?
Den wenigsten Menschen ist klar, wie weit verbreitet häusliche Gewalt in unserer Gesellschaft ist. Vor wenigen Tagen erst startete eine Kampagne für die Hilfstelefone. Plakate dafür sollten an allen Stellen hängen, wo mögliche Opfer erreicht werden können: an BVG-Haltestellen, in Apotheken, in Supermärkten. Wir müssen alle hinschauen, wenn es in der Nachbarswohnung laut wird. Man darf das nicht abtun, sondern nachfragen und gegebenenfalls Hilfe holen.
Aber noch mal: Das klingt, als hätte man es durchaus besser vorbereiten können.
Rot-Rot-Grün hat die Zufluchtsorte für Frauen, die Gewalt erfahren, ausgebaut und endlich ein siebtes Frauenhaus eröffnet. Wir haben zusätzliche Zufluchtsorte in Hotels aufgebaut: Die müssen weiter bestehen bleiben. Und ein weiteres Frauenhaus ist im Entstehen. Um nachhaltig Gewalt zu reduzieren, nehmen wir auch die Täterarbeit in den Fokus: Damit Täter keine Täter bleiben. Aber es ist darüber hinaus sinnvoll, jetzt weitere Vorschläge zu machen, die schnell umgesetzt werden können.
Reden über häusliche Gewalt hilft?
Ja. Das Thema muss in die Öffentlichkeit. Je weniger Menschen wegschauen, desto mehr Menschen wird geholfen.
Ist das auch der Grund dafür, dass Einrichtungen für Kinder wie die Arche offen bleiben dürfen?
Alle Orte, an die sich Opfer von häuslicher Gewalt wenden können, müssen ein Angebot aufrechterhalten können, entweder im Freien oder über digitale Kanäle. Das kann überlebenswichtig sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“