HIV-Epidemie in Sibirien: Ein bisschen Leben
Mindestens 1,2 Millionen Russen haben sich mit HIV infiziert, ein Großteil durch Drogenkonsum. Die Regierung verharmlost.
„Die Katze hat seit Tagen nicht mehr gegessen, Pascha. Gestern war Julia da und hat ihr Bratkartoffeln gemacht, aber sie wollte sie nicht. Also habe ich sie aufgegessen.“
Sie zündet sich eine Zigarette an. „Pascha, hörst du?“
Pascha, ihr Bekannter, ein schlanker Kerl mit hervorstehenden Wangenknochen und schiefer Nase, reagiert nicht, er sitzt vor einer Steckdose neben dem Fernseher und lädt sein Handy. Das braucht er, um Drogen zu bestellen.
Weil sie Stigmatisierung befürchten, haben beide erst nach langem Zögern Reporter in ihr Leben gelassen und darum gebeten, unter anderen Namen zu erscheinen. Sie tragen also Spitznamen, wie sie in Russland oft benutzt werden.
„Sollen wir 0,5 nehmen?“, fragt er und dreht sich zu ihr.
„Für 1.300 Rubel? Nur 0,5? Nicht ein Gramm?“
„Nein, 0,5 Gramm. Saphir. 100 Rubel Kommission. Wo sollen wir es abholen? Prawoberegnij, Markowij oder Kuibyschewa?“ Pascha scrollt durch die Nachricht mit den Instruktionen.
„Irgendwo in der Nähe.“
„Dann wird das bestimmt wieder irgendwo im Wald sein.“
Umgerechnet 17 Euro für ein halbes Gramm Amphetamine. Drogen kaufen per Telegram, einer Messenger-App. In Irkutsk, der 600.000-Einwohner-Stadt im Südosten Russlands, ist das der sicherste Weg, an Drogen zu kommen. Über die App wählt man Sorte und Menge aus, dann deponiert man das Geld an einem angegebenen Ort und erhält wenig später die Koordinaten für ein „Lesezeichen“, ein Codewort für das Drogenversteck. Nicht immer ist es leicht zu finden, manchmal kommen sie nach Stunden Suche mit leeren Händen zurück – ohne Stoff und ohne Geld.
Früher, sagt Nastja, da hat man es an jeder Ecke bekommen, wann man wollte und ohne dieses bescheuerte Versteckspiel. Seit sie 16 Jahre alt ist, ist Nastja drogenabhängig. Speed, Amphetamine – sie nimmt, was sie kriegen kann, am liebsten aber Heroin, da ist sie wie aufgedreht, freundlich und gesprächig und nicht so introvertiert wie bei dem anderen Zeug. Mit Heroin hat es angefangen, sagt sie, und mit Heroin wird es wohl auch enden.
Leben mit HIV, ohne es zu wissen
Nastja hat sich vor etwa 15 Jahren, vielleicht auch weniger, über eine verunreinigte Nadel beim Heroinspritzen mit HIV infiziert – so wie der Großteil der etwa 1,2 Millionen Menschen in Russland, die mit einer bestätigten HIV-Diagnose leben. Experten schätzen, dass es in Russland etwa genauso viele Menschen mit HIV gibt, die gar nichts davon wissen. Nastja ist 35 Jahre alt. Im Schnitt sterben Menschen mit HIV in Russland mit 38.
Überhaupt ist die HIV-Statistik Russlands ein Zeugnis des Schreckens: Jede Stunde infizieren sich hier durchschnittlich 10 Menschen mit dem Virus. Zuletzt stieg die Zahl der Neuinfektionen um zehn bis fünfzehn Prozent. Damit ist Russland das Land mit den drittmeisten Neuinfektionen weltweit – davor liegen nur noch Südafrika und Nigeria.
Der Oblast Irkutsk, ein Bezirk im Süden Sibiriens, der größer ist als Großbritannien, in dem aber nur knapp 2,4 Millionen Menschen leben, ist eine der Regionen, die am schlimmsten betroffen sind. Hier ist fast jeder Fünfzigste HIV-positiv. Damit liegt die Zahl deutlich über dem Grenzwert von einem Prozent der Bevölkerung, ab dem UNAIDS von einer Epidemie spricht.
Die Welle erreicht Russland in den Neunzigern
Sie ist die Folge einer Drogenwelle, die das Land in den frühen Neunzigern erreichte und die noch immer nicht verebbt ist. Die Sowjetunion war bereits Geschichte, doch von den Reformversprechen Gorbatschows war in der Stadt im Herzen Sibiriens nichts angekommen. Glasnost und Perestroika blieben leere Begriffshülsen. Stattdessen herrschten Armut und Arbeitslosigkeit. Banditen kontrollierten die Straßen – und die Grenzen. Aus Afghanistan, über Tadschikistan schwemmte zunächst Opium, später Heroin nach Irkutsk, von wo aus es weiter Richtung Westen verladen wurde.
Aber viel davon blieb hier hängen. In Irkutsk wurden ganze Straßenzüge zu Drogenvierteln. Die Regierung versuchte zunächst das Problem in den Griff zu bekommen, indem sie den Verkauf von Nadeln unter Strafe stellte. Daraufhin explodierte die Zahl der HIV-Infektionen. Sie sprang von 23 im Jahr 1998 auf über 3000 im Folgejahr. Ein Jahr später waren es sogar über 4500 Neuansteckungen. Die lokalen Behörden riefen den Notstand aus.
Als Nastja sich angesteckt hat, irgendwann Anfang der Nullerjahre, ganz genau sagen kann sie es nicht, sanken die Zahlen dank dem Einsatz ausländischer Hilfsorganisationen gerade wieder etwas. Durch Zufall wurde das Virus bei ihr während eines Krankenhausaufenthalts diagnostiziert. Sie hatte bereits Hepatitis B und C und war eigentlich wegen einer Lungenentzündung in Behandlung. Dass sie auch noch mit HIV infiziert war, war für sie dann keine Überraschung. „Damals haben wir alle gemeinsam gestochen“, sagt sie. „Niemanden hat es interessiert, ob die Nadel benutzt war oder nicht.“
Sie blickt durch das Fenster ihrer Wohnung, die in einem heruntergekommenen Backsteingebäude nicht weit vom Stadtzentrum liegt, hinaus in den grauen Himmel und lässt die Rubel-Scheine durch die Hände gleiten, als wolle sie sich von ihnen verabschieden. Regentropfen prasseln auf ein Wellblechdach. Dreckswetter, sagt Nastja, und zündet sich wieder eine Zigarette an.
Der erwartete Tod verstärkt den Konsum
Paschas Blick weicht noch immer nicht von seinem Handydisplay. „Was? Er hat mich geblockt?“ Plötzlich verzieht sich seine Miene, seine Stimme wird lauter. „Nastja, hörst du mich? Er hat einfach meine Nummer blockiert!“
„Was? Warum?“ Nastja wendet sich Pascha zu, ihre wässrigen Augen wirken abwesend, als wäre sie weit weg mit ihren Gedanken.
Pascha zögert einen Moment und sagt dann: „Die Bullen haben ihn gestern geholt. Wir müssen Juri anrufen.“
„Immer gibt es irgendein Scheißproblem!“ Nastja bricht in einen Hustenanfall aus und greift nach ihrem Handy. „Dann holen wir halt Heroin. Ich rufe ihn an.“
Wie viele bestärkte die Diagnose Nastja nur darin, so weiterzumachen wie bisher. Sterben würde sie sowieso, ob in zwei oder fünf Jahren. Mit der Droge im Blut wich die Angst vor dem Tod. Bis zu dreimal am Tag spritze sie sich Heroin. Ihr bisschen Leben spielte sich zwischen einem und dem nächsten Schuss ab, sagt sie. Bis sie irgendwann nur noch 38 Kilogramm wog, Knochen und Haut war, und über eine halbe Stunde brauchte, um in ihre Wohnung im ersten Stock zu kommen, „Ich dachte, das sei mein Ende“, sagt sie.
Eine Drogentote mehr, eine HIV-Kranke weniger. Es hätte wohl kaum jemanden überrascht. Jeden Tag sterben in Russland durchschnittlich 87 Menschen an den Folgen der Krankheit. Weniger als die Hälfte aller Menschen mit einer Diagnose wird behandelt. Es fehlt an Geld, an einer Strategie, aber vor allem an politischem Willen. Die Regierung versucht das Ausmaß des Problems zu vertuschen und HIV als Krankheit von Drogenabhängigen und Homosexuellen darzustellen, obwohl das Virus inzwischen vor allem durch Kontakt zwischen heterosexuellen Partnern verbreitet wird. So fördert sie die Stigmatisierung von Menschen mit HIV.
Die erste Begegnung mit Gott
Längst ist HIV Teil eines Informationskriegs um die Deutungshoheit im Land; eines Kriegs, der sich vor allem gegen den Westen und seine Präventionsstrategie richtet. Methoden wie Metadonersatztherapien oder Spritzenaustauschprogramme haben sich im Kampf gegen HIV weltweit bewährt. Doch die russische Regierung lehnt die Förderung solcher Programme ab. Gesetze wie jenes über das Verbot von „Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen“ machen eine funktionierende Aufklärung nahezu unmöglich.
An öffentlichen Orten in Irkutsk gibt es so gut wie keine Informationen zu HIV-Prävention oder Werbung für Kondome. Das liegt auch an der immer stärker werdenden Rolle der orthodoxen Kirche, die den Staat in seiner Propagierung „traditioneller familiärer Werte“ unterstützt.
Der Mangel an Informationen führt dazu, dass Verschwörungstheorien zu HIV in Russland weit verbreitet sind. Im April letzten Jahres machte eine Nachricht aus Irkutsk international Schlagzeilen. Ein Baby mit HIV starb, weil seine Mutter das Virus für einen Mythos hielt und eine Behandlung verweigerte. Aber auch unter Wissenschaftlern findet man solche Stimmen. Einer der bekanntesten HIV-Leugner, der Pathologe Vladimir Agejew, bezeichnete das Virus als „ungeheuerliche medizinische Mystifizierung“. Er lehrt an der Medizinfakultät in Irkutsk.
Am Nachmittag, als sich die Septembersonne mit letzter Kraft über die Pinienwälder Sibiriens legt und das Ende des Sommers einläutet, sitzt Andrei Chairow in Daunenjacke am Steuer seines Toyotas und fährt dorthin, wo er Gott zum ersten Mal begegnet ist. Vor ihm zieht sich die Straße schnurgerade durch die sattgrüne Landschaft. An seiner rechten Hand funkelt ein Ring in demselben Blau wie seine Augen. Der 43-Jährige blinzelt zufrieden.
Etwa 60 Kilometer nordwestlich von Irkutsk biegt Andrei rechts auf einen Schotterweg ab. „Tschebogory“ steht auf einem kleinen Schild. Nach ein paar Minuten erreicht er eine Lichtung umgeben von Wald, man sieht die ersten Holzhäuser mit bunt verzierten Giebeln. In den Gärten liegen Kürbisse und Kartoffeln. Vor einem neuen, zweistöckigen Haus, macht er Halt. Ein älterer Mann mit zahnlosen Lächeln kommt auf Andrei zugelaufen. „Andruscha, da bist du ja.“ Die beiden umarmen sich.
Der Staat gibt kein Geld, aber die Kirche
Dieser idyllische Ort, der an eine Kommune erinnert, ist ein Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige und Alkoholiker der protestantischen Stiftung „Neues Leben“. Andrei ist einer der Verantwortlichen.
Andrei Chairow
Hühner und Gänse laufen über den Rasen. Vor dem Haus stapeln sich Baumstämme, Material für die zweite Etage. Andrei hofft, dass sie noch vor dem nahenden Winter fertig wird. Im Erdgeschoss wird gerade der Tisch für das Mittagessen gedeckt. Es riecht nach frischem Kiefernholz. Am Eingang hängt ein Bild, darunter die Aufschrift: Gott segnet.
Im Moment leben hier etwa 30 Menschen mit Drogenvergangenheit, die meisten von ihnen HIV-positiv. Sie kümmern sich um die Tiere, erledigen Aufgaben im Dorf, kochen und beten gemeinsam. Der Glaube ist ein wichtiger Bestandteil, doch es ist jedem selbst überlassen wie er ihn praktiziert. „Vielen tut es gut, raus aus der Stadt zu sein. Weit weg von allen Versuchungen“, sagt Andrei. Der Aufenthalt ist kostenlos und wird von der protestantischen Gemeinde finanziert. Wer kann, der spendet. Vom Staat gibt es kein Geld. „Die denken, wir wären eine Sekte“, sagt Andrei.
Er steht inmitten des Esszimmers, einem hell erleuchteten Raum, umringt von Frauen und Männern, die gerade ihren Entzug begonnen haben. Aus den Lautsprechern dröhnt russische Popmusik. Andrei reicht einem Mann auf einer Leiter einen Schraubenzieher und gibt ihm einige Anweisungen. Man spürt, wie die Bewohner Andreis Nähe suchen. Für sie ist er eine Art Vaterfigur und ein Vorbild. „Ich versuche den Menschen Hoffnung zu geben“, sagt er. “Ich will ihnen zeigen, dass, es einen Ausweg gibt, dass es ein Leben abseits von Drogen und Kriminalität gibt und, dass sie mit Gott alt werden können.“
Im Kampf gegen die Sucht hilft der Glaube
Als Andrei 2005 zum ersten Mal zum Zentrum „Neues Leben“ kam, da hatte Gott ihn gerade vor dem Tod bewahrt – aber das ahnte er damals noch nicht, denn er kannte keinen Gott. Woher auch? Sein Leben war ein nicht enden wollender Kreis aus Drogen, Kriminalität und Gefängnisaufenthalten. In die Kirche ging er nur, um seine Verbrechen zu beichten oder sie sich vorher vom Priester zu legitimieren zu lassen. Das einzige, an was er glaubte, war sein Tod. Und um diesen zu beschleunigen, hatte er sich eine Überdosis Heroin gespritzt. „Ich habe keinen anderen Ausweg mehr gesehen“, sagt er heute.
In den frühen Neunzigern hatte er mit dem Saufen angefangen, schnell kam Heroin dazu. Um seine Sucht zu finanzieren, wurde er kriminell. Als er das erste Mal eingebuchtet wird, Mitte der Neunziger, sagt er sich: Ich versuche es nochmal mit einem „normalen Leben“, sollte heißen: Ein Leben ohne Drogen und Kriminalität. Nach vier Jahren kommt er frei, er findet eine Frau, geht eine Beziehung ein, denkt sogar über Kinder nach. Aber schon nach einem Jahr kehrt zu seinem früheren Leben zurück. „Der einzige Sinn in meinem Leben waren Drogen“, sagt Andrei.
Sein Versuch, diesem Leben ein Ende zu setzen, scheitert jedoch. Andrei überlebt die Überdosis. Ein paar Wochen später hört sein Vater im Bus, wie zwei Passagiere über ein protestantisches Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige sprechen. Er organisiert einen Platz für seinen Sohn. Es ist seine letzte Hoffnung, dass Andrei von den Drogen loskommt.
Sechs Monate bleibt Andrei clean. Er beginnt an Gott zu glauben, liest die Bibel und betet. Er ist unter seinesgleichen und fühlt sich nicht mehr allein mit seinen Problemen. Doch kaum ist er raus, zurück in der Stadt, setzt er sich den ersten Schuss.
Stigmatisierung statt Hilfe
Nach zwei weiteren Jahren Drogenrausch und Kriminalität verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zunehmend. Andrei versucht es ein zweites Mal mit einem Entzug. Diesmal findet er Gott, wie er sagt, hat plötzlich ein Ziel vor Augen. Der Glaube gibt ihm Halt. Andrei will etwas zurückgeben. Nach seinem Entzug beginnt er sich für die Gemeinde zu engagieren. Als Kaplan besucht er Häftlinge, er arbeitet als Freiwilliger am Aids-Zentrum und kümmert sich um den Ausbau des Rehabilitationszentrums in Tschegobory. Inzwischen ist er verheiratet und hat zwei Kinder.
Er sagt: „Gott hat es so gewollt.“
Doch Glaube allein reicht nicht, das weiß auch Andrei. Deswegen versucht er die Bewohner, die HIV haben, zu einer Therapie am Aids-Zentrum zu überreden. Aber nur die wenigsten entscheiden sich schon während des Aufenthalts für eine Therapie. Den meisten Drogenabhängigen fehle der Mut und die Disziplin, sich am Aids-Zentrum zu registrieren, sagt Andrei. Andere glauben nicht an Besserung durch eine Behandlung. „Es gibt kaum Vertrauen in die medizinische Versorgung im Land.“
Igor Saizew
Erst seit 2006 gibt es in Russland ein staatliches Programm für antiretrovirale Therapie, die die Viruslast von Menschen mit HIV auf null reduzieren kann. Letztes Jahr erhöhte das Gesundheitsministerium zwar das Budget für HIV-Medikamente. Doch von dem UNAIDS-Konzept 90-90-90, das vorsieht, dass 90 Prozent der Bevölkerung getestet, 90 Prozent der Patienten behandelt werden und 90 Prozent der behandelten Patienten eine auf null reduzierte Viruslast nachweisen, ist Russland noch weit entfernt.
Der Rausch hilft, das Leben zu spüren
Igor Saizews HIV-Diagnose ist noch nicht bestätigt. Er ist 45 Jahre alt und hat kurz geschorene Haare; vor einem Monat hat er mit einem Entzug im Rehabilitationszentrum „Neues Leben“ begonnen. Um seine Privatsphäre zu schützen, wurde auch sein Name geändert. An seiner Lippe krustet eine Herpes-Zyste, sein Blick ist wach, aber voller Schmerz. Igor war in der Armee, hat im Tschetschenienkrieg gekämpft bis er mit 21 Jahren zum Krüppel geschossen wurde. Danach nahm er 20 Jahre lang Heroin und andere Drogen. „Es war der einzige Weg, Mitleid für mich selbst zu empfinden“, sagt er. „Ein Schuss und die Illusion des Lebens kam zurück.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
1998 wurden bei ihm Hepatitis B und C diagnostiziert. Sein Todesurteil, sagte man ihm. Vor wenigen Wochen wurde er im Zentrum erneut getestet. Das Ergebnis: negativ. „Mir ist klar, dass das ein Wunder ist.“ Seine HIV-Diagnose ist bereits einige Jahre her. Sollte sie sich jetzt bestätigen, will er nach dem Entzug mit einer Behandlung beginnen. „Gott hat sich mir gezeigt und ich habe verstanden, dass ich keinen leichten Weg nehmen sollte“, sagt er.
Vielleicht wird der Glaube auch Igor zu einem Neustart verhelfen. Vielleicht wird er Andreis Weg folgen. Doch was passiert, wenn er zurück in die Stadt kommt? Wer erklärt einem Menschen, der 20 Jahre drogenabhängig war, wie eine HIV-Behandlung funktioniert? Wie man einen Job findet? Oder wie man eine Beziehung führt?
In Irkutsk wird Nastja sich ihre violette Jacke überstreifen, sich eine Zigarette anstecken, sie wird Pascha anweisen, das Essen vorzubereiten, aber mit nicht zu viel Ketchup. Und dann wird sie durch den Regen irren, vorbei an dem Gefängnis, zur Bushaltestelle. Sie wird ihren Kumpel Juri treffen und schließlich, sagt sie, werden sie irgendwo am Stadtrand im Wald nach einem kleinen Päckchen Heroin graben. Und in ein paar Tagen wieder.
Dass Nastja trotz ihrer Krankheit und ihrer Sucht am Leben ist, dass sie drei bis viermal die Woche arbeiten gehen kann, Fenster und Böden schrubben für ein paar Tausend Rubel, und dass es Menschen gibt, mit denen sie reden kann, das verdankt sie keinem Gott, sondern einer Hilfsorganisation namens Navigator.
Spaß am Leben, Angst vor dem Tod
Damals, als sie dachte, ihre letzten Tage seien gezählt, erzählte ihr ein Freund von der gemeinnützigen Organisation, die HIV-Prävention speziell für Randgruppen wie Drogenabhängige, Obdachlose oder Prostituierte anbietet. Hier stößt sie auf Unterstützung. Die Mitarbeiter kümmern sich um Papiere und Krankenversicherung und helfen ihr, einen Therapieplatz im Aids-Zentrum zu bekommen. „Dank ihrer Hilfe bin ich noch am Leben.“
In der Regel sind es private Initiativen wie diese, die einen Bruchteil der Menschen mit HIV, Menschen wie Andrei oder Nastja, auffangen – und nicht der Staat. Stattdessen macht die Regierung die Arbeit von Einrichtungen wie Navigator oder Neues Leben zum Überlebenskampf. Seit 2012 das Gesetz über ausländische Agenten in Kraft getreten ist, haben viele ausländische Hilfsorganisationen das Land verlassen. Russische Akteure, die ausländische Mittel empfangen, können als „ausländische Agenten“ verzeichnet werden und stehen unter besonderer Beobachtung. Auch Andreis Stiftung ist davon bedroht.
Die staatlichen Behörden betonen lieber die Fortschritte. Dass die Zahl der Neuinfektionen in Irkutsk im letzten Jahr um knapp 500 auf 3.414 gesunken ist. Dass der Aids-Zentrum in Irkutsk gerade zum besten des Landes gewählt wurde. Und dass dort inzwischen etwa 26.000 Menschen registriert sin, etwas mehr als die Hälfte aller Menschen mit einer Diagnose im Bezirk.
Was verschwiegen wird: dass dies vor allem privaten Initiativen und persönlichem Engagement zu verdanken ist. Mehrmals pro Woche kommt Nastja ins Büro von Navigator, um sich saubere Nadeln oder Essenskonserven zu holen, aber auch um Menschen zu treffen, die in einer ähnlichen Situation sind.
Seit sie die Behandlung begonnen hat, hat sie wieder Spaß am Leben, sagt sie, und Angst vor dem Tod.
Die Recherche erfolgte im Rahmen eines Projekts der Boris-Nemzow-Stiftung und des Vereins „Für ein freies Russland“ (Warschau), gefördert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.
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