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Rezept für Überwachung mit ChatkontrolleGrundrechte, geschnetzelt

Kommentar von

Svenja Bergt

Breiter Protest verhinderte die Abstimmung über die Chatkontrolle. Was nie ein gutes Rezept gegen Internetkriminalität war, ist noch nicht vom Tisch.

Wer alles sieht, sieht auch Dinge, die ihn überhaupt nichts angehen Illustration: Ali Arab Purian

R ezept: Überwachungseintopf mit geschnetzelten Grundrechten

Zutaten

1 Grundrecht, das noch nicht komplett ausgehöhlt ist

1 Idee für eine Überwachungsmaßnahme in bisher nicht da gewesenem Ausmaß

1 etabliertes Totschlagargument

15 EU-Staaten mit mindestens 65 % der EU-Bevölkerung

Zubereitung

Die Zutaten zusammenrühren. Nach dem ersten Aufkochen auf kleiner Flamme weiterköcheln und gut ziehen lassen. Sofern nötig, wiederholt aufkochen und dabei nach und nach weitere Mitgliedstaaten hinzufügen, bis die nötige Mehrheit erreicht ist.

Das letzte Aufkochen dieses Spezialrezepts sollte eigentlich am Dienstag stattfinden. In diesem Prozess sollte die nötige Mehrheit der EU-Staaten einem höchst umstrittenen Überwachungsvorhaben zustimmen: der Chatkontrolle. Dass die Bundesregierung der Verordnung auf massiven öffentlichen Druck hin vorerst doch nicht zur EU-Mehrheit verhilft, ist nur ein Sieg auf Zeit. Denn vom Tisch ist der Eintopf, pardon, das Vorhaben, nicht. Solange die EU-Kommission den Vorschlag nicht zurückzieht, wird er immer wieder zur Abstimmung gestellt werden – und wer weiß, wie beim nächsten Mal die Mehrheiten aussehen?

Bei der Chatkontrolle sollen unter anderem Anbieter von Messengerdiensten wie Whatsapp, Signal oder Threema verpflichtet werden können, die Kommunikation der Nut­ze­r:in­nen auf Inhalte mit mutmaßlicher sexualisierter Gewalt an Kindern zu scannen. Wer einen US-Cloud- oder Mail-Anbieter verwendet, muss heute schon damit rechnen, dass hochgeladene Inhalte entsprechend gescannt werden. Doch der Vorschlag zur Chatkontrolle geht darüber hinaus: Gegenstand der Überwachung sollen auch Ende-zu-Ende-verschlüsselte Inhalte sein.

Von Ende zu Ende verschlüsselt sind Inhalte dann, wenn nur Senderin und Empfänger sie entschlüsseln können. Niemand auf dem Weg. Nicht das Unternehmen, das den Dienst bereitstellt, und auch nicht andere, die vielleicht gerne mal mitlesen würden, seien es Straf­ver­fol­ge­r:in­nen oder der Stalker-Ex.

Bei E-Mails hat sich die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nie in der Breite durchgesetzt, weil sie technisch etwas aufwendiger umzusetzen ist. Doch bei vielen Messaging-Diensten ist sie mittlerweile Standard.

Und wer jetzt denkt, na ja, so geheim ist meine an den Partner gesendete Einkaufsliste auch nicht, kann vielleicht einfach mal durch ein paar eigene Chatverläufe scrollen. Es müssen gar nicht im Einvernehmen gesendete Nacktbilder sein oder die Kommunikation zwischen Therapeutin und Patient (ja, auch die läuft manchmal über Whatsapp).

Auch Partyfotos oder den Austausch aus der Selbsthilfegruppe für Menschen mit Depressionen würden manche vielleicht gerne wirklich privat halten. Ganz zu schweigen davon, vor welche Probleme eine gebrochene Ende-zu-Ende-Verschlüsselung etwa queere Menschen oder Re­gie­rungs­kri­ti­ke­r:in­nen in einem EU-Land wie Ungarn stellen würde.

Technological Fix

Die Chatkontolle ist also ein „Technological Fix“: die Idee, ein Problem, sei es gesellschaftlich, ökologisch oder sozial, durch Technik lösen zu können. Dieser Ansatz gewinnt immer dann an Attraktivität, wenn die konventionellen – aber häufig sinnvolleren – Schritte zu mühselig, teuer oder uninnovativ erscheinen. Der CO2-Ausstoß muss drastisch sinken, um die Klimakrise abzumildern? Ach, lasst uns doch besser per Aerosolinjektion die Sonne verdunkeln.

Die Algorithmen der großen Onlineplattformen pushen polarisierende und extreme Inhalte und gefährden damit Menschen und Gesellschaften? Komm, lass uns verpflichtende Alterskontrollen einrichten, um Kinder davon fernzuhalten.

Denn klar: Regeln, die Plattformen zu besseren Orten für alle Menschen machen, wären deutlich mühsamer durchzusetzen.

Was also die Chatkontrolle angeht: Natürlich ist die Verbreitung von Fotos, Bildern oder Videos, die sexualisierte Gewalt an Kindern zeigen, ein Problem. Eines mit schwerwiegenden Folgen und eines, das durch das Internet noch größer wurde, weil die Verbreitung viel schneller, globaler und billiger geworden ist. Und klar: Das erhöht den Ermittlungsaufwand für die Strafverfolgungsbehörden. Aber sogar der Kinderschutzbund sagt, dass andere Wege zielführender wären gegen sexualisierte Gewalt an Kindern als die Chatkontrolle.

Zum Beispiel: Prävention, Aufklärung, niedrigschwellige Meldewege für Betroffene. Gefundenes Material bei Filehostern, über die sich große Datenmengen hoch- und herunterladen lassen, sofort löschen zu können. Die Präsenz von Polizeistreifen im digitalen Raum.

All diese Maßnahmen hätten einen wunderbaren Nebeneffekt: Sie würden nicht annähernd auf derart zerstörerische Weise in Grundrechte eingreifen, wie es die Chatkontrolle wird tun können. Daher: Diesen Überwachungseintopf gilt es endgültig wegzuschütten. Genießbar war der doch von Anfang an nicht wirklich.

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Redakteurin für Wirtschaft und Umwelt
schreibt über vernetzte Welten, digitale Wirtschaft und lange Wörter (Datenschutz-Grundverordnung, Plattformökonomie, Nutzungsbedingungen). Manchmal und wenn es die Saison zulässt, auch über alte Apfelsorten. Bevor sie zur taz kam, hat sie unter anderem für den MDR als Multimedia-Redakteurin gearbeitet. Autorin der Kolumne Digitalozän.
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