Grünen-Schulpolitikerin über Diktate: „Unglaublicher Stress fürs Kind“
Die Hamburger Schulpolitikerin Stefanie von Berg (Grüne) warnt vor einer Überbewertung der Rechtschreibung und fürchtet die Renaissance von Diktaten.
taz: Der Hamburger Schulsenator mahnte vor den Ferien die Lehrer, Rechtschreibung „mit großem Nachdruck zu unterrichten.“ Tat das Not, Frau von Berg?
Stefanie von Berg: Dieser Satz hat viele Lehrkräfte geärgert, denn sie tun ja bereits viel für die Rechtschreibung. Wir Grünen sind sehr dafür, dass Kinder richtig schreiben, damit sie sich verständlich ausdrücken können. Für uns hat Rechtschreibung aber eine dienende Funktion und ist kein Selbstzweck.
Was heißt Selbstzweck?
Rechtschreibung gilt als Maß für Bildung. Ist sie schlecht, heißt es, die Bildung ist schlecht. Alle regen sich auf, weil wir aus einer Generation kommen, wo es hieß: Wer nicht richtig schreibt, ist doof. Aber Bildung ist etwas anderes, beziehungsweise viel mehr. 2007 gab es eine Studie zur politischen Bildung, da schnitten die Deutschen schlecht ab. Das regte keinen auf. Rechtschreibung bekommt jetzt einen hohen Stellenwert und soll ein Drittel von Deutsch ausmachen. Das ist echt viel. Was soll dafür wegfallen?
Als schuldig für falsche Schreibweisen gilt die Methode „Lesen durch Schreiben“.
Keine Schule in Hamburg führt die Methode in Reinform durch.
Aber Teile der Methode?
Es wird in der ersten Klasse mit der Anlauttabelle gearbeitet. Die Kinder haben zu jedem Buchstaben ein Bild, da ist zum Beispiel ein Affe neben einem „A“ abgebildet, und dann wissen sie, wie „A“ geschrieben wird. Nutzen Kinder diese Tabelle, können sie, ohne schon schreiben zu können, Geschichten schreiben. Dadurch wird das kreative Schreiben gefördert und auch die Lesekompetenz, aber die Rechtschreibung sicher noch nicht. Das muss dann von den Lehrkräften vorgenommen werden, spätestens ab Klasse 2.
Ist es eine Mär, dass dies zum Falschschreiben führt?
Ja. Und die ist ärgerlich. Es gibt genauso Schulen, die mit Fibel unterrichten. Da werden Wörter gelernt und nur mit denen geschrieben. Die Ergebnisse sind langfristig nicht anders.
53, Lehrerausbildung in Stade und Schulpolitische Sprecherin der Grünen Fraktion Hamburg.
Tut, tut, es fährt ein Auto.
Genau. Ich finde die landesweiten „Kermit“-Lernerhebungen interessant. Was die Orthographie anbelangt, hinken die Kinder, die die Anlauttabelle nutzen, bis zur dritten Klasse ein bisschen hinterher. Dafür sind sie im Lesen stark. Dann ziehen sie aber nach und überholen die Altersgenossen.
Haben die Kinder mehr Spaß?
Sie lernen einfach anders. Ich sage: Am Ende von Klasse 9 sollen Kinder richtig schreiben können. Die einen brauchen einfach länger. Gerade bei Orthografie benötigen Kinder mit Migrationshintergrund besondere Unterstützung. Da sind wir in Hamburg noch nicht gut genug, das besagen alle Studien.
Benachteiligen neue Lernformen Kinder mit anderer Muttersprache?
Wenn eine Lehrkraft die Anlauttabelle als einzige Form nutzt, ja. Weil Kinder mit anderer Muttersprache häufig nicht so gut im Deutschen lautieren können. Eine gute Lehrkraft guckt genau, was ein Kind braucht und wendet eine andere Lese- und Schreiblernmethode an. Dasselbe gilt für individualisierten Unterricht. Es gibt Kinder, die schaffen es nicht, für sich Verantwortung zu übernehmen. Gute Schule bietet diesen Kindern ein enges Gerüst. Es geht um Methodenvielfalt.
Werden wieder Diktate geschrieben?
Ich befürchte das.
Was ist schlecht daran?
Diktate prüfen nicht die Rechtschreibung, sondern die Stressfähigkeit eines Kindes.
Diktate waren mal abgeschafft.
Aus genau diesem Grund.
Rabe führte sie wieder ein.
Meine Haltung dazu ist klar. Ich finde, es gibt bessere Formen der Lernkontrolle. Da benotete Diktate laut dem Senator nicht verboten sind, habe ich Sorge vor dem geheimen Lehrplan. Schwierig ist auch das Mustercurriculum. Das verteilt den Stoff haarklein auf die Jahre. Das kann nicht in ganz Hamburg so durchgeführt werden. In Billstedt sind Erstklässler in der Regel auf einem anderen Stand als in Blankenese.
Ab der zweiten Klasse soll jeder Fehler korrigiert werden. Müssen Lehrer darauf bestehen?
Da muss man gut überlegen, streicht man wirklich alle Fehler an? Oder bildet man Schwerpunkte, sagt, ich gucke mal nur auf Groß- und Kleinschreibung. Denn was passiert mit einem Schüler, der einen komplett rot markierten Text zurückbekommt? Wenn da zehn mal drunter steht, tolle Geschichte, aber trotzdem ist alles rot, weil ich ganz viele Fehler habe, dann schreibe ich das nächste Mal gar nichts mehr.
Die Grünen standen lange für neue Lernkultur. Wo finden wir heute grüne Schulpolitik?
Es ist so, dass die Schulen, die innovatives Lernen wollen, das weiterhin können, auch als Schulversuch. Das haben wir verteidigt. Die Devise ist leben und leben lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus