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Grünen-Politiker Sven-Christian KindlerEin letztes Mal

16 Jahre lang kämpfte Sven-Christian Kindler für eine Reform der Schuldenbremse. Jetzt musste er nochmal ran – für den Kompromiss mit Union und SPD.

Foto: Stefan Boness

Sein Zug aus Hannover ist fast pünktlich, trotz Schuldenbremse. Es ist Donnerstagmorgen, und noch ist Deutschland ein Land mit sehr wenig Schulden und sehr kaputten Schienen, als Sven-Christian Kindler aus dem ICE am Berliner Hauptbahnhof springt und rüber zum Bundestag läuft. Er läuft schnell und wird im Laufe des Tages immer schneller werden.

Seit 16 Jahren sitzt Kindler im Bundestag, er ist für die Grünen für Haushaltspolitik zuständig. Seitdem kämpft er für eine Reform der Schuldenbremse, bis zum Wahltag weitgehend erfolglos. Nun hört Kindler auf, er will mehr Zeit mit den Kindern verbringen. In einem Interview mit der taz sagte er: „Gleich­berechtigte Elternschaft und ein Job in der Spitzenpolitik sind nicht vereinbar.“ Der Großteil der Sorgearbeit liege bei seiner Frau, „und das ist nicht gerecht.“

Kindler hat seine Abschiedsparty gefeiert, mit Mitarbeitern aus all den Jahren, bis morgens um drei. Er hat sein Büro ausgeräumt, die Wände sind nackt, nur noch wenige Ordner stehen im Regal. „Schon schön hier“, sagt Kindler, als er an der Spree entlang Richtung Bundestag läuft. Er freue sich darauf, privat in der Stadt zu sein, ohne Stress. „Gerade bin ich hier ja auf Montage“.

Aber das Privatleben muss noch warten. Ausgerechnet jetzt, drei Wochen nach der Wahl, erlebt Kindler die vielleicht wichtigsten Tage seiner politischen Karriere.

Er wird gebraucht

Union und SPD brauchen Geld für ihre mögliche Koalition. Mit den Stimmen des alten Bundestags wollen sie beschließen, wofür es im neuen womöglich keine ausreichende Mehrheit gibt. Sie wollen ein Sondervermögen für Investitionen und die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben aussetzen. Verfassungsrechtlich ist das heikel, finanzpolitisch umstritten.

Deswegen wird Kindler jetzt nochmal gebraucht. Er ist Haushaltsexperte, davon haben die Grünen nicht allzu viele. Er berät seine Fraktionsspitze bei den Verhandlungen mit SPD und Union. Anfang der Woche haben sie Nein gesagt zu den Plänen von Schwarz-Rot. Dabei ist ihnen klar: Scheitern ist nicht erlaubt. SPD und Union können immer mit der Weltlage, mit Trump und Putin winken. Aber die Grünen wollen auch nicht mehr zu allem Ja und Amen sagen.

Die Partei steht in diesen Tagen vor einem Dilemma.

Kindler hat an dem Gegenvorschlag mitgearbeitet: Mit dem alten Bundestag wollen die Grünen eine Ausnahme für Verteidigungsausgaben beschließen. Der neue Bundestag soll dann Investitionen möglich machen, mit den Stimmen der Linken. Ob die Grünen hart bleiben oder sich mit Union und SPD einigen, hängt auch von Kindler ab.

Wenn man Sven-Christian Kindler durch diesen Tag begleitet, immer schnelleren Schrittes durch die Katakomben des Bundestags, von seinem Büro zur Fraktionssitzung ins Plenum und weiter in den Haushaltsausschuss, versteht man, warum er diesen Beruf aufgibt. Ständig klingelt sein Handy. Eine Grünen-Mitarbeiterin aus der Verhandlungsgruppe braucht seinen Rat: „Ja, das muss aus dem Haushalt gezahlt werden“, sagt er und legt schon wieder auf. Wie könnten die Grünen mehr Investitionen für Klimapolitik erreichen? Kindler schreibt SMS an die Fraktionschefinnen Britta Haßelmann und ­Katharina Dröge.

Inhaltlich verrät er nichts aus den Verhandlungen mit Union und SPD, auch nicht vertraulich. Aber Atmosphärisches erzählt er: „Da ist viel Männlichkeit im Raum“, sagt er mit Blick auf Söder, Merz, aber auch Klingbeil.

Kindler sitzt seit 2009 im Bundestag, da war er gerade 24 Jahre alt. Er kam, kurz nachdem die Schuldenbremse beschlossen worden war. Vorher war er Controller bei Bosch. Bei den Grünen setzt er sich für eine keynesianische Wirtschaftspolitik ein, für mehr Investitionen. Lange gegen den Zeitgeist und gegen Widerstand in der Partei. Im Wahlprogramm 2021 fordern die Grünen dann eine Reform der Schuldenbremse, aber in der Koalition mit der FDP ist da nichts zu machen.

2020 habe er beschlossen, nach dieser Legislatur aufzuhören. „Ich muss mal runterkommen, den Stress aus meinem Körper kriegen“, sagt er. Der Betrieb sei „crazy“.

Foto: Stefan Boness

Doch nach der Wahl musste Kindler seiner Familie erklären, dass er noch ein letztes Mal ran muss: Noch einmal lange Tage und kurze Nächte, ständig unter Strom. Wie hat sie reagiert? Kindler zögert. „Ich bin jetzt mehr weg, als ich wollte.“ Die Arbeit sei gerade völlig entgrenzt. „Aber es ist absehbar. Bald ist es wirklich vorbei.“

Noch eine Stunde bis zur Debatte im Plenum. Die Grünen strömen aus dem Fraktionssaal, Haßelmann und Dröge geben der Presse ein Statement. Sie wollen hart bleiben. Kindler stürmt vorbei. „Ich hab’ neue Aufträge bekommen, es ist alles zu viel“, sagt er. Kindler muss neue Vorschläge für die grünen Verhandler erarbeiten. Das Verfahren sei eine „völlige Zumutung“. In Windeseile muss man sich einigen, auf das womöglich folgenreichste Gesetz seit langem. Die Einführung der Schuldenbremse hat drei Jahre gedauert. Und jetzt soll eine grundlegende Neuausrichtung der deutschen Politik innerhalb weniger Tage beschlossen werden?

Kindler erzählt von Angeboten, die man der Union gemacht hat im vergangenen Jahr. Alle abgelehnt, bis zum Dienstag nach der Wahl. „Merz hat die Wähler verarscht“, sagt Kindler.

Wenn Schwarz-Rot von den Grünen bekommt, was sie wollen, werden die Grünen nicht mehr gebraucht. Eine echte Reform der Schuldenbremse, für dauerhafte Investitionen ohne Sondervermögen, wird es dann wohl niemals geben. Könnte es sein, dass ausgerechnet Kindler da gerade an einem Deal arbeitet, der die Schuldenbremse in neuer Form zementiert?

Er wiegt den Kopf. „Die Gefahr besteht“, sagt er, „deswegen muss ich jetzt kämpfen.“ Er könne sich nicht verweigern, weil er das Verfahren falsch finde, dafür ginge es um zu viel. Um zu viele Milliarden. Um Sicherheit und Klimaschutz. Die Grünen wollen einen Kompromiss, das wird deutlich. Und das schwächt ihre Verhandlungsposition.

Die Grünen verhandeln so hart, wie es sich manche in der Ampel von ihnen gewünscht hätten. Sie balancieren zwischen Regierungspartei und Opposition. Sie klingen entschiedener als vor ein paar Wochen. Selbst Unionsabgeordnete auf den Fluren des Bundestags raunen sich zu: Das kann noch schiefgehen. Eine reine Oppositionspartei wollen die Grünen aber auch nicht werden. „Das habe ich lange genug gemacht“, sagt Kindler.

In der Bundestagsdebatte überrascht Friedrich Merz die Grünen dann mit einem neuen Vorschlag. Kindler sitzt in der dritten Reihe, direkt hinter den Fraktions- und Parteichefs, als Merz ans Rednerpult tritt. „Wir hatten außerordentlich gute Gespräche“, sagt er Richtung Grüne, zahm wie ein Kätzchen. Auf offener Bühne geht er auf sie zu – und setzt sie unter Druck. Aus dem Sondervermögen sollen 50 Milliarden in den Klimaschutz fließen. Dann wechselt Merz den Tonfall: „Was wollen Sie denn noch?“, ruft er den Grünen zu. Kindler schlägt die Hände vorm Gesicht zusammen. Es ist auch dieser Ton, der eine Einigung schwer macht.

Während die Debatte weiterläuft, geht Kindler vor die Tür. Er wusste, dass die Union ein neues Angebot unterbreiten würde. Die Zahl war aber neu für ihn. „Das kann ich nicht ernst nehmen.“ Die 50 Milliarden sind nicht zusätzlich zum Sondervermögen geplant, sondern sollen abgezogen werden. Auf 12 Jahre verteilt sind sie ein Bruchteil von dem, was gebraucht wird für Investitionen in den Klimaschutz. Der Expertenrat der Bundesregierung geht von jährlich 85 Milliarden aus, wobei das auch Investitionen etwa in die Bahn umfasst. Allein die Aufstockung der Mütterrente würde jährlich ähnlich viel kosten wie das, was Merz den Grünen anbietet.

Ein weiterer Knackpunkt: Die Grünen fordern, dass das Sondervermögen für zusätzliche Investitionen ausgegeben wird, nicht für ohnehin geplante. Das steht nicht im Vorschlag von SPD und Union, obwohl sie es in ihren Reden beteuern. „Sorry, das ist handwerklich einfach schlecht“, sagt Kindler.

Ist ein Scheitern noch möglich? Ja, sagt Kindler später, auf dem Weg in den Haushaltsausschuss. In den Ausschuss haben die Abgeordneten Ökonomen und Expertinnen eingeladen, um den Gesetzentwurf zu beraten. Es ist 16 Uhr, Kindler hat bis auf eine Banane nichts gegessen. Überm Bundestag geht die Sonne unter. Am Abend trifft Kindler einen alten Freund in einer Kneipe, wirft Pfeile auf eine schwarz-rote Dartscheibe. Dann fährt er zurück in den Bundestag, zu einem Treffen mit den Haushaltsexperten von SPD und Union. Sein Tag endet morgens um ein Uhr, 19 Stunden nachdem er in Hannover in den Zug gestiegen ist.

Kurz vor Redaktionsschluss am Freitag ruft Kindler an: „Es riecht nach Einigung.“ Am Mittag soll er in Merz’ Büro, letzte Details klären. Dann die Einigung: Schwarz-Rot ist auf die Grünen zugegangen. 100 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen fließen in den Klimaschutz, außerdem müssen Investitionen nun tatsächlich „zusätzlich“ sein. „Es ist ein vertretbarer Kompromiss“, sagt Kindler. „Wir haben teure Wahlgeschenke von Schwarz-Rot verhindert, Klimaschutz verankert und den Sicherheitsbegriff erweitert. Die strukturelle Reform der Schuldenbremse für Investitionen haben wir jetzt nicht geschafft. Das bleibt als Aufgabe weiterhin bestehen.“

In seinem Abschiedsinterview hatte Kindler der taz gesagt, sein großes Ziel, die Reform der Schuldenbremse, müsse der neue Bundestag beschließen, ohne ihn. Nun kommt es anders, und Kindler wird kommende Woche seine allerletzte Rede im Bundestag halten. Die Fraktionsspitze hatte ihm angeboten, schon an diesem Donnerstag zu reden, aber er wollte bis zum Finale warten.

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2 Kommentare

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  • Danke für deine Arbeit, Sven. Und alles Gute für deine Zukunft!

  • Dann werden es wohl wieder die ärmeren Schichten und der Mittelstand bezahlen.



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