Grünen-Politiker Özdemir zur Freilassung: „Nichts ist in Ordnung in der Türkei“
Grünen-Politiker Cem Özdemir mahnt, die anderen Inhaftierten in der Türkei jetzt nicht zu vergessen. Das sei auch im Geiste von Deniz Yücel.
taz: Herr Özdemir, Deniz Yücel ist frei. Wo haben Sie davon erfahren?
Cem Özdemir: Kurz bevor ich heute auf der Münchner Sicherheitskonferenz in eine Diskussionsveranstaltung ging, habe ich es gehört. Ich habe mich sehr gefreut, dachte an seine Frau und Familie. Ich dachte aber auch daran, dass sich Deniz Yücel jetzt garantiert mit aller Kraft für diejenigen einsetzen wird, die immer noch widerrechtlich im Gefängnis sitzen: seine Journalistenkollegen, aber auch die Wissenschaftler, Politiker, Vertreter der Zivilgesellschaft. Wir müssen alle gemeinsam dafür sorgen, dass die nicht vergessen werden.
Könnte die Bundesregierung auch für diese Gefangenen irgendetwas erreichen?
Sie ist nicht so machtlos, wie sie gelegentlich den Eindruck erweckt. Als die Türkei letzten Sommer diese absurde Terrorliste veröffentlichte, auf der sich Daimler befand und die ein oder andere Döner-Kebab-Stube in Deutschland, hatte Berlin zum ersten Mal Konsequenzen angedeutet – bei den Hermes-Bürgschaften für Exportkredite, also das, was Ankara richtig weh tut. Innerhalb von 24 Stunden hat die Türkei diese Liste zurückgenommen und so getan als ob sie davon nichts wüsste. Das zeigt: Es gibt eine Seite, da ist Erdoğan sehr empfindlich. Das sind Wirtschaftsfragen, weil er auf Investitionen aus Deutschland und Europa genauso angewiesen ist wie auf Touristen.
Deniz Yücel kommt einen Tag nach dem Besuch des türkischen Ministerpräsidenten im Kanzleramt frei. Das ist wahrscheinlich kein Zufall. Was hat die Bundesregierung hier richtig gemacht?
Nein, das ist natürlich kein Zufall. Man hat nach einer Lösung gesucht, die für Ankara gesichtswahrend aussieht. Aber es ist klar, dass Erdoğan die Entspannung mit Deutschland nur sucht, weil er die Investitionen braucht. Seine Wirtschaft liegt darnieder, die Inflation steigt, die Unzufriedenheit in der Türkei wächst und deshalb braucht er an einer Front Entspannung. Das sollte Deutschland nutzen, um auf das Schicksal der anderen widerrechtlich Inhaftierten in der Türkei hinzuweisen. Man darf jetzt nicht so tun, als ob alles wieder in Ordnung ist. Nichts ist in Ordnung in der Türkei. Im Gegenteil, die Situation wird eher schlimmer. Man denke zum Beispiel daran, wie Ankara jüngst die Legitimation des Verfassungsgerichts anzweifelte, weil die Richter die Freilassung zweier Journalisten angeordnet hatten.
Also keine Zugeständnisse an die Türkei, bevor sich die Situation dort nicht grundlegend ändert? Auch keine Rüstungsexporte?
Ich schlage vor, dass wir im Geiste von Deniz Yücel arbeiten. Er hat dankenswerterweise deutlich gemacht, dass er für einen schmutzigen Deal – Waffen für Freilassung – nicht zur Verfügung steht. Deniz Yücel hat immer auf das Schicksal der anderen Inhaftierten hingewiesen und das sollten wir jetzt auch machen.
52, war während der Jamaika-Sondierungen als Außenminister im Gespräch. Jetzt sitzt er für die Grünen-Fraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Die türkisch-deutschen Beziehungen sind eines seiner Schwerpunkt-Themen.
Sigmar Gabriel hat sich heute selbst für die Freilassung gelobt. Sollte er nach diesem Erfolg im Amt bleiben?
Sicherlich hat der Bundesaußenminister seine Verdienste, genauso wie die Bundeskanzlerin, aber das Hauptverdienst gebührt doch vor allem der kritischen Öffentlichkeit, die das Thema ein Jahr lang ganz oben auf der Tagesordnung gehalten hat. Damit hat sie den nötigen Druck entfacht, damit Deniz Yücel nicht vergessen wird. Denen sollte der Hauptdank gelten. Und diese Öffentlichkeit brauchen wir jetzt auch für die anderen Inhaftierten in der Türkei. Denn die große Gefahr ist, dass sich die Türkei mit der Freiheit von Deniz Yücel die Lage wieder zurechtlügt und zurechtwünscht und so tut, als ob alles in Ordnung wäre. Und ich sage nochmals: In der Türkei ist nichts in Ordnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“