Grüne über Gesundheit in Ballungsräumen: „Wir spielen auf Sieg“
Kirsten Kappert-Gonther ist grüne Direktkandidatin in Bremen Stadt: In der taz erklärt sie, warum Gesundheitspolitik für urbane Räume wichtig ist.
taz: Frau Kappert-Gonther, Wahlkampf unter Corona-Bedingungen, haben Sie da überhaupt Freude dran?
Kirsten Kappert-Gonther: Aber ja! Corona wird uns einschränken, aber nicht bremsen. Die Inhalte werden darunter jedenfalls nicht leiden. Konsequenter Klimaschutz war noch nie so wichtig wie jetzt. Dass dafür eine echte Politikwende nötig ist, hat jetzt ja das Urteil von Karlsruhe noch mal deutlich gemacht. Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, die Freiheiten und die Lebensbedingungen für die künftigen Generationen zu sichern. Und noch nie waren die Chancen größer, durch eine Wahl diesen Wechsel herbeizuführen.
Die Partei verbindet das mit dem Ehrgeiz, die Kanzlerin zu stellen. Setzt Sie das nicht unter Druck?
Nein, das motiviert mich eher. Ich brenne auf diesen Wahlkampf. Ich freue mich darauf, unsere grünen Vorschläge für ein besseres Leben auf die Straße zu bringen. Diesmal geht es um Platz eins. Wir wollen mit Annalena ins Kanzlerinnenamt.
… und Sie das Direktmandat?
Wir können vielerorts Direktmandate gewinnen.
Also gibt’ s mal kein informelles Bündnis zugunsten der SPD-Kandidatin?
Wir spielen auch in Bremen und Bremerhaven auf Sieg. Wir werben um beide Stimmen für Grün, für konsequenten Klimaschutz und eine gute Gesundheitspolitik.
Das ist ja Ihr Thema. Werden Sie im Wahlkampf zur Pandemie-Profiteurin?
Corona sollte von niemandem instrumentalisiert werden. Die Pandemie zeigt aber deutlich, wie fragil unsere Gesundheit und wie grundlegend eine gerechte Gesundheitsversorgung ist. Und sie zeigt uns, wie stark unsere Gesundheit von den Umweltbedingungen abhängt, unter denen wir global leben. Konsequenter Klimaschutz und konsequenter Umweltschutz schützen auch die Gesundheit.
54, ist seit 2017 Bremer Bundestagsabgeordnete der Grünen. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.
Was bedeutet das?
Wir müssen weg von dem rein individualmedizinischen Ansatz, der in Deutschland noch verfolgt wird. Wir müssen hin zum Blick auf die gesamte Bevölkerung und Gesundheitschancen – also das, was man unter Public Health versteht. Durch die Erkenntnisse aus der Pandemie hat dieser Ansatz Rückenwind bekommen. Ich weiß aus meiner ärztlichen Tätigkeit, welche Bedingungen im Gesundheitssystem herrschen, die dringend zu verändern sind. Das werde ich auch im Wahlkampf einbringen.
Public Health heißt: die soziale Frage zu berücksichtigen …?
Sie ist eine wichtige Komponente, dazu gehören auch die Fragen öffentlicher Infrastruktur und das Wissen über die Bevölkerungsstruktur. Wir sehen bei Corona, wie stark wir davon abhängig sind, dass die Gesundheitsämter funktionieren. Die Frage der Impfpriorisierung hat damit zu tun, dass wir erkennen müssen, welche Bevölkerungsgruppen besonders gefährdet sind und daher zuerst geimpft werden müssten.
Und das hat auch eine geschlechterpolitische Komponente?
Absolut. Auch die Pandemie hat ein Geschlecht: Die Lasten der Krise wurden im Wesentlichen von Frauen getragen – im Einzelhandel, in der Pflege und im Gesundheitswesen arbeiten mehr Frauen als Männer. Und es erkranken mehr Frauen als Männer. Dass die zunächst unentdeckten, sehr seltenen Nebenwirkungen beim Astra-Zeneca-Impfstoff bei Frauen auftraten, ist auch kein Einzelfall.
Sondern?
Wir wissen mittlerweile, dass bei der Forschung an Medikamenten Geschlecht als Kriterium zu wenig berücksichtigt wird. Da wird vom weißen männlichen Normkörper ausgegangen. Das schadet unterm Strich allen, auch Männern, die dieser Norm nicht entsprechen. Eine Ursache dafür liegt auf der Hand: Die Entscheidungen in Gesundheitswesen werden überwiegend von Männern getroffen. Das hat eine Anfrage von mir im Bundestag sehr deutlich gemacht.
Wieso, die Frauen sind in der Branche doch in der Mehrheit?
Das ist so. Sie machen die Arbeit. Aber es gibt ganze Bereiche, in den Chefetagen der Kassenärztlichen Vereinigungen, Ärztekammern, Krankenkassen, wo teilweise keine einzige Frau in den Entscheidungsgremien sitzt. Die gläserne Decke im Gesundheitswesen ist in Deutschland ebenso dick, wie in den Vorständen der Dax-Konzerne. Das hat Folgen: Sie können sehr gut an den Bereichen beobachtet werden, die für Frauen besonders relevant sind, wie die Geburtshilfe und der Zugang zu einem medizinisch sicheren Schwangerschaftsabbruch. Da muss sich dringend etwas ändern. Wir brauchen eine Frauenquote in den Entscheidungsgremien des Gesundheitswesens.
Sogar Ihre bisherige Konkurrentin von der CDU unterstützt Sie da im Vorwahlkampfvideo …
Ich habe mich sehr gefreut, dass Elisabeth Motschmann daran teilgenommen hat.
Aber jetzt im Wahlkampf werden Sie nicht so kooperativ vorgehen und mit den Fehlern der Coronapolitik der CDU-SPD-Regierung abrechnen?
Nein, das plane ich nicht.
Weil’ s keine gab?
Nein, weil es mir nicht liegt, anderen ihre Fehler vorzuhalten. Ich möchte, dass wir gemeinsam aus ihnen lernen. Fehler gab es, gravierende sogar, mindestens seit Herbst. Es ist notwendig, diese auch zu adressieren. Es ist schlimm, dass es bis heute von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kein Konzept gibt, wie Menschen zu erreichen sind, die nicht gut Deutsch sprechen: Das wird engagierten Youtubern überlassen, statt systematisch von der zuständigen Behörde übernommen. Auch haben Bundesregierung und MPK Maßnahmen für den Infektionsschutz im Herbst zu spät und zu zögerlich beschlossen. Das schreibt sich fort bis heute.
Wäre es besser gewesen, wie Portugal dicht zu machen?
Portugal hat das im Januar sehr konsequent gemacht, wie auch Taiwan und andere asiatische Länder vorher. Hier fehlen der nötige Mut und die Weitsicht, um konsequent mit einem nachvollziehbaren Stufenplan zu agieren. Mindestens hätte man sehr viel früher, spätestens jetzt, den Arbeitsbereich in die Verantwortung nehmen müssen. Das hieße eben auch: nicht systemrelevante Bereiche für eine bestimmte Zeit runterfahren.
Wollen Sie die Wirtschaft auslöschen?
Nein. Die Wirtschaft würde davon profitieren. Nur wenn wir die Infektionszahlen schneller runterbringen und das Risiko weiterer Mutationen minimieren, gibt es eine sichere Perspektive. Die Bundesregierung muss sich trauen, sich auch gegen Widerstände durchzusetzen im Sinne der Gesundheit der Bevölkerung.
Ende September wird die seltsamste Bundestagswahl seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland stattfinden. Wie bereitet sich Bremen darauf vor? Wie wird der Wahlkampf werden? Worum wird es gehen?
In einer Serie spricht taz Bremen mit allen Direktkandidat*innen im Wahlkreis 54, die etwas zu sagen haben.
Wird Corona den Wahlkampf beherrschen wie unser Gespräch – und andere Themen verkümmern lassen?
Für mich wird es in dem Wahlkampf um den Zusammenhang zwischen Klimaschutz, Umweltbedingungen und Gesundheit gehen. Der ist wie auch soziale Schieflagen durch Corona in den Fokus gerückt. Wenn wir jetzt zu konsequentem Umweltschutz und konsequentem Klimaschutz übergehen, verringern wir die Gefahr neuer Pandemien und sorgen für mehr soziale und globale Gerechtigkeit.
Gegen diesen globalen Ansatz wird Thomas Röwekamp Ihnen das Leben schwer machen, der sich mit dem Verweis auf seine sehr große Lokalkompetenz für Berlin empfiehlt.
Dem sehe ich sehr gelassen entgegen. Meine Themen sind gerade auch für Bremen wichtig und darüber hinaus. In Ballungsräumen fordern Folgen der Klimakrise wie die langen Hitzeperioden auch hier schon jetzt jedes Jahr Tote. Und gerade in unserer Stadt sehen wir sehr genau, wie stark die Gesundheits-Chancen von der sozialen Lage abhängen. Die Lebenserwartung ist in Gröpelingen niedriger als in Schwachhausen. Es ist ein globales und regionales Thema. Wer das versteht, der weiß: Wir müssen auch unsere Städte für Menschen bauen, statt für Autos. Das ist mir ein Herzensanliegen.
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