Gründe für den Studienabbruch: Der Mythos vom faulen Studenten
Jeder dritte Studierende schmeißt das Studium hin – dachte man lange. Neueste Forschungen zeigen ein positiveres Bild.
Dann halt BWL, dachte Marie Rückner und schrieb sich in Magdeburg für den Bachelor Betriebswirtschaftslehre ein. „Eigentlich hatte ich keine Ahnung, was ich machen wollte“, sagt die 26-Jährige rückblickend. „Ich war gut in Mathe, aber an ein reines Mathematikstudium traute ich mich nicht ran. Zudem gab es in Magdeburg keinen NC.“ Doch im zweiten Semester stellte die damals 19-Jährige fest, dass sie sich das Studieren so nicht vorgestellt hatte: Die Themen langweilten sie, die Hörsäle waren zu voll, die Stadt gefiel ihr nicht. Sie brach ihr Studium ab und verließ Magdeburg.
Wie Rückner brechen rund ein Drittel der Universitätsstudent*innen ihr Studium ab, an Fachhochschulen immerhin noch fast jede und jeder Vierte. Das heißt, von den 507.000 Studienanfänger*innen, die sich dieses Wintersemester neu an deutschen Hochschulen eingeschrieben haben, machen 127.000 bis 170.000 keinen Abschluss.
Das ist zwar nicht gerade wenig, aber eigentlich ganz normal, erklärt Peter Greisler, Leiter der Abteilung Hochschule des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) auf einer Fachtagung in Berlin. Viele junge Menschen wüssten nach der Schule einfach noch nicht genau, was sie wollen. „Umso wichtiger ist es, die Abbruchsgründe zu untersuchen und die Wege besser auszuschildern.“
Bisher richten sich die Bemühungen vor allem darauf, die Abbruchquote zu verringern. So haben Bund und Länder im Hochschulpakt 2020 bestimmt, 10 Prozent der zur Verfügung gestellten Mittel für die Senkung der Abbruchquote einzusetzen. Dabei geht es auch ums Geld: Für die Politik und Unis sind Studienabbrüche Fehlinvestitionen.
In den Naturwissenschaften ist die Enttäuschung oft groß
Um diese künftig besser vermeiden zu können, hat das Bildungsministerium vergangenes Jahr 10 Milliarden Euro in die Förderlinie „Studienerfolg und Studienabbruch“ gesteckt. Zwanzig Projekte untersuchen in den nächsten drei bis vier Jahren die Gründe für einen Studienabbruch – aus der Forschung sollen sich wirksame Gegenmaßnahmen ableiten lassen. So betrachtet zum Beispiel das Bayrische Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung die Wirksamkeit bereits bestehender Maßnahmen.
Die Universitäten Leipzig und Würzburg untersuchen, wie sehr der Studienerfolg ausländischer Studierender von ihren Deutschkenntnissen abhängt. Und die Uni Duisburg-Essen versucht herauszufinden, warum vor allem bei naturwissenschaftlichen Fächern die Erwartungen von Hochschule und Studierenden an das Studium so weit auseinandergehen.
Ein anderes der geförderten Projekte hat seine Ergebnisse Anfang Dezember vorgestellt – mit überraschenden Befunden. Die Akademie für Technikwissenschaften (acatech) hat zusammen mit den führenden Technischen Universitäten in Deutschland (TU9) die Studienabbrüche in den Ingenieurwissenschaften untersucht und festgestellt, dass die Zahl der Studienabbrecher*innen viel geringer ist als die bislang angenommene Horrorquote von 48 Prozent. Demnach brechen lediglich 21 Prozent der Studienanfänger*innen tatsächlich ab, weitere 16 Prozent wechseln nur das Fach oder die Hochschule.
Der Grund für diese Differenz: Bislang wurden diese beiden Gruppen nicht unterschieden. Alles, was keinen Abschluss machte, zählte als Abbrecher. Sind die hohen Abbruchquoten also nur ein Mythos? Das Bild vom faulen Studenten die Folge statistischer Unsauberkeit? Zumindest stellt die acatech-Studie die Datengrundlage infrage. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) aus dem Jahr 2014 weist rund 32 Prozent der Universitätsstudierenden und rund 27 Prozent der Fachhochschulstudierenden als Abbrecher*innen aus. Bei den Ingenieurwissenschaften schlossen sogar 36 Prozent der Eingeschriebenen nicht das Studium ab.
Die Beratungsangebote müssen individueller werden
Am seltensten schließen Studierende der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ihr Studium ab. Hier ist es gerade mal jede und jeder Vierte. Die häufigsten Gründe laut DZHW-Studien, die Studierende selbst für die vorzeitige Exmatrikulation angeben: Leistungsprobleme, mangelnde Studienmotivation und die finanzielle Situation.
Genauere Informationen zu den Abbruchgründen haben die Unis – mit Ausnahme der 12 TUs, die an der acatech-Studie teilgenommen haben – nicht. „Die eigentlichen Aspekte, die zu einem Studienabbruch führen und wie diese sich einander bedingen, wurden bisher kaum erforscht“, berichtet Ulrich Heublein, Projektleiter des DZHW. Dies sei aber wichtig, um Maßnahmen ergreifen zu können.
Erste Schritte haben die Universitäten schon unternommen. In den vergangenen Jahren wurden mehr Beratungsstellen für Studierende eingerichtet. Die reichen jedoch nicht, sagt Margret Bülow-Schramm, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Hochschulforschung und Professorin in Hamburg: „Unsere Studierenden nutzen das Angebot der Studienberatung kaum. Sie würden lieber eine intensivere Beratung der Lehrenden bekommen.“ Bülow-Schramm glaubt: Die Beratungen müssten noch individueller sein, denn jeder Studierende komme mit einem anderen Hintergrund an die Universität. Das aber könnten die derzeitigen Beratungen nicht zu Genüge bewältigen.
Was nun tatsächlich ausschlaggebend für Studienabbrüche ist, kann aber erst frühestens in vier Jahren beurteilt werden. Bis 2020 sollen die meisten Projekte abgeschlossen und ausgewertet sein. Und die Ergebnisse könnten zu einem kleinen Kulturwandel führen.
Leistungsprobleme sind die häufigsten Probleme
Denn bislang schieben die Universitäten üblicherweise den Studierenden die Schuld zu, wenn deren Studium scheitert. Viele Professoren beschweren sich, dass die Erstsemester*innen in der Schule nicht ausreichend auf das Studieren vorbereitet worden seien. Allerdings beeinflussen viele Faktoren die Entscheidung. „Den Schulen oder den Studierenden selber die Hauptschuld zu geben, ist falsch. Die soziale Herkunft, wie der Bildungshintergrund der Eltern, die ökonomische Lage und die Erfahrungen mit akademischen Gewohnheiten spielen eine zentrale Rolle bei dem Erfolg eines Studiums“, erklärt Michael Feldhaus, Leiter des Forschungsprojektes der Uni Oldenburg.
Feldhaus untersucht den Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und Studienabbruch. Dabei wollen sie besonders das Private der Studierenden analysieren: Wie stark lenkt die Meinung der Eltern? Wie die von Partner*innen? Welche Rolle spielen Freund*innen bei dem Entschluss, das Studium vorzeitig zu beenden? Eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) belegt beispielsweise, dass Kinder aus Nichtakademiker-Haushalten seltener studieren als Kinder mit Akademikereltern, weil sie zu Hause weniger über die Vorteile eines Hochschulabschlusses erfahren als ihre Klassenkamerad*innen.
Auch Bettina Jorzik, Leiterin des Programmbereichs „Lehre und akademischer Nachwuchs“ des Stifterverbandes kritisiert, dass die Hochschulen selbst noch zu wenig in die Verantwortung genommen werden. Die bisherigen Konzepte gegen den Studienabbruch betreffen fast ausschließlich die Studierenden, nicht die Lehrenden oder die Studiencurricula. Diese müssten jedoch mehr Rücksicht auf die heterogenen Bildungshintergründe nehmen. „Die Unis sollen nicht jeden mitschleifen, aber die gegebenen Möglichkeiten erschöpfen.“
Der Studienabbruch aufgrund von Leistungsproblemen ist laut einer DZHW-Studie von 2010 die am häufigsten genannte Ursache. Ganz oft klaffen Erwartungen und Realität einfach zu stark auseinander. Die Universitäten informieren ihre potenziellen Studierenden nicht ausreichend, so Heublein. Viele junge Student*innen wissen etwa nicht, dass ein Studium der Betriebswirtschaftslehre viel Mathematik beinhaltet oder in Jura sprachliche Genauigkeit verlangt werde.
Zu wissen, was man nicht will, kann auch hilfreich sein
Die acatech-Studie empfiehlt den Universitäten, ihre Studierenden stärker auszuwählen. Eignungsfeststellungsverfahren, Orientierungssemester oder eine verpflichtende Studienberatung sind nur ein paar Möglichkeiten, die die Hochschulen neben der Abiturnote haben, um einen Studienabbruch von vornherein vermeiden zu können.
Diese Maßnahmen stehen jedoch nicht in jedem Bundesland zur Verfügung. In Bayern, Baden-Württemberg und Hessen haben die Hochschulen großen Spielraum dabei, ihre Studierenden selbst auszuwählen. Andere Länder wie Niedersachsen oder NRW sind da restriktiver. Angesichts dieser Unterschiede, sagt Wolfram Ressel, Rektor der Uni Stuttgart und Projektleiter der acatech-Studie, „darf die Verantwortung für geringe Abschlussquoten, lange Studiendauern und eine hohe Zahl von Spätabbrechern nicht allein den Universitäten angelastet werden“. Sprich: nach seiner Ansicht sind die Länder mitverantwortlich.
Eine verpflichtende Studienberatung hätte auch Marie Rückner geholfen: „Obwohl ich mich gut informiert hatte, wusste ich damals nicht, wie viele verschiedene Mathematistudiengänge es eigentlich gibt, die keine reine Mathematik lehren.“ Sie musste sich durch verschiedene Prüfungsordnungen und Studienverlaufspläne arbeiten. Schließlich hat sie einen zweiten Anlauf genommen und mittlerweile ihren Bachelorabschluss in Wirtschaftsmathematik in der Tasche.
Nach dem abgebrochenen ersten Versuch wusste sie immerhin genau, was sie wollte – beziehungsweise was nicht.
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