Großbritanniens Wahl in den Medien: "Wir sollten ihn ins Wasser werfen"
Großbritannien hat eine Koalitionsregierung gewählt – how shocking! BBC sendet die ganze Nacht über live, aufregend, mit viel Spott und virtuellen Studios. ARD und ZDF könnten viel lernen.
BERLIN taz | „Sind diese Autoszene nicht immer ganz hinreißend? Und sind das Rhododendrenhecken? Ich glaube, das sind Rhododendren. Oder zumindest etwas ganz ähnliches“ - Wenn in Britannien gewählt wird, ist Zeremonienmeister David Dimbleby in seinem Element, auch wenn es gegen drei Uhr morgens und er schon seit fünf Stunden bei der BBC auf Sendung ist.
Sowohl das Fahrzeug wie die von nächtlichen Scheinwerfen erhellte Hecken gehören in diesem Fall übrigens Nick Clegg, dem Parteichef der Liberal Democratic Party, der zu Bekanntgabe des Wahlergebnisses in seinem Wahlkreis gefahren wird. Election Night 2010 wird in die britische Geschichte eingehen: Hunderte konnten ihre Stimme nicht mehr abgeben, weil manche Wahllokale dem späten Ansturm nicht gewachsen waren. Und dann auch noch ein „hung Parliament“ ohne klare Mehrheit für eine Partei.
Das Vereinigte Königreich steht zum ersten mal seit über 80 Jahren vor einer echten Koalitionsregierung – how shocking! Sollten deutsche Sendergranden, vom Interesse oder präseniler Bettflucht übemannt, die Wahlsendungen der Briten verfolgt haben, sollten auch sie geschockt sein. Nämlich darüber, wie man Wahlsendungen auch machen kann: Keine wahnsinnig staatstragenden Bilder, keine „Berliner Runden“ mit ihren Verbaltänzen, und vorfahrende Limousinen sind maximal mit mild-herablassendem Spott erlaubt.
Sky News ist wie immer etwas amerikanischer – und die BBC dafür immer und überall: Es scheint, als hätte der Sender in jedem der 650 Wahlkreise ein Kamerateam – tatsächlich sind es „bloß“ Dutzende, aber eine deutlich flächendeckendere Veranstaltung als die üblichen Angebote von ARD und ZDF bei deutschen Bundestagswahlen.
Weil es in Großbritannien um die einzelnen Kandidaten und ihre Wahlkreise geht, bleibt man von immer gleichen Bildern aus Parteizentralen und Wahlparties verschont. Dafür erstreckt sich Dimblebys Wahlstudio gleich über drei Etagen: Da ist zunächst mal der Tisch, an dem Politjournalismus-Veteran Dimbleby mit dem auch in Britannien offenbar unvermeidlichen Wahlprofessor und dem BBC-Chefstatistiker sitzt. Darüber talkt Jeremy „Paxo“ Paxman durch die Nacht mit wechselnden Politiker-Runden und fragt wie immer beinhart-stoisch nach, wenn seinen Fragen ausgewichen wird. Und von noch weiter oben meldet sich alle halbe Stunde eine Dame mit den „News“, die seit Schließung der Wahllokale um 22.00 Uhr Ortzeit sowieso nur ein Thema kennen.
Und das wird von der ersten Prognose an – im Wortsinn – vorbildich umgesetzt. Denn die BBC hat nicht nur virtuelle Studios, sie kann es auch. Da gibt es ein animiertes Unterhaus, komplett mit den grünen Lederbänken, auf denen sich die realen Abgeordneten tummeln. Der Moderator schreitet auf und ab und spielt jede Menge Varianten der für Briten bislang eher unbekannten Möglichkeiten – Koalition oder Minderheitsregieriung durch. Daneben gibt es interaktive Grafiken, die sich auch auf der BBC-Homepage wiederfinden.
Und – ganz unvirtuell – auch weiter jede Menge Spott. Andrew Neil wird immer mal wieder zugeschaltet – er ist auf einer Wahlparty auf einem Boot auf der Themse und sorgt mit kleinen Gaga-Interviews mit Promis und ab und zu auch ernster zu nehmenden Gesprächspartnern für Unterhaltung im Zählmarathon. Dabei bekommt jeder sein Fett ab – und ein beliebter Journalist des konservativen Daily Telegraph wird gleich noch ein bisschen öffentlich blamiert, weil er sich weigert, Rundfunkgebühren zu bezahlen. „We should throw him off the boat“, spöttelt Neil. „And so say all of us“, nimmt gleich wieder Dimbleby im BBC-Wahlstudio den Faden auf.
Für Dimbleby ist Election Night 2010 ohnehin ein Volksfest: Schließlich wird alle paar Stunden auch ein Beitrag über das letzte „Hung Parliament“ 1974 gezeigt, nachdem es relativ rasch zu Neuwahlen kam. Damals stand ein junger BBC-Reporter vor dem Sitz des Premierministers in No. 10, Downing Street und sagte ungefähr das, was auch heute wieder gilt: Das da nun einer sitze, der überlege „if he should, or will, or should not continue as Prime Minister“.
Dass die Worte so gleich klingen, ist wenig erstaunlich, denn der junge Mann im Februar vor 36 Jahren war David Dimbleby selbst, nur noch mit mehr Haaren. Heute moderiert er souverän seine Elf-Stunden-Schicht bis morgens um neun, und auch die neuesten Mode-Medien sind seinem Sender nicht fremd: Um 9.41 am Londoner Ortszeit twittert BBC-Reporterin Laura Kuenssberg „No. 10 source tells me PM is still asleep“. Good for him.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen