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Großbritanniens RegierungLabour versenkt sich selbst

Die Regierung von Keir Starmer wollte mit Sozialreformen Milliarden sparen. Doch nun wurde klar: Weder die Reformen noch die Einsparungen klappen.

Verwaltet ein gigantisches Haushaltsloch: Finanzministerin Rachel Reeves im britischen Unterhaus Foto: house of commons/reuters

Berlin taz | Auf den ersten Blick mutete die wöchentliche Fragestunde des britischen Premierministers im Unterhaus am Mittwoch an wie immer. „Ich bin wirklich stolz auf unser erstes Jahr an der Regierung“, rief Keir Starmer in Antwort auf die Frage der konservativen Oppositionsführerin Kemi Badenoch, was er denn erreicht habe.

Neben dem Labour-Premier saß seine Finanzministerin Rachel Reeves auf der grünen Bank wie ein Häufchen Elend: tiefe Ringe unter den Augen, ab und zu ein müdes Lächeln. Ein knappes Jahr erst sind sie an der Regierung, am 4. Juli 2024 hatte Labour einen hohen Wahlsieg eingefahren – mit dem Versprechen, dem Tory-Chaos ein Ende zu setzen und Seriosität walten zu lassen. Und heute? „Inkohärent und chaotisch“ nannte jetzt die Liverpooler Labour-Abgeordnete Paula Barker den eigenen Laden – nachdem ihr linker Parteiflügel gerade Starmer demontiert hatte.

Am Dienstagabend versenkte die Regierung ihr wichtigstes Sozialreformprojekt nämlich selbst: eine Neuregelung der explodierenden staatlichen Leistungen für Menschen mit Behinderung oder Erwerbsminderung. Ursprünglich sollte die „Universal Credit and Personal Independence Payment Bill“ die Bezugskriterien deutlich verschärfen; dies sollte 5 Milliarden Pfund (6 Mrd. Euro) pro Jahr einsparen und hätte, wie sogar die Regierung zugibt, 250.000 Menschen unter die Armutsgrenze gedrückt.

Labour begründet die Einschnitte mit dem Haushaltsloch

Dagegen formierte sich die größte Labour-Revolte von Starmers Amtszeit. Als klar war, dass die Regierung auf die Zustimmung der oppositionellen Konservativen angewiesen wäre, machte sie am Montag Zugeständnisse: Die Neuregelungen würden bestehende Leistungsbezieher nicht treffen, nur neue ab November 2026.

Als daraufhin die Konservativen ihrerseits ihre Unterstützung infrage stellten, zog die Regierung am Dienstag kurz vor der Abstimmung sämtliche Verschärfungen zurück. Noch während Arbeitsministerin Liz Kendall das Gesetzesvorhaben im Unterhaus verteidigte, war es bereits Makulatur. Am Ende ging es zwar durch, trotz Labour-Gegenstimmen – aber vom ursprünglichen Vorhaben steht nichts mehr drin.

Vor ein paar Wochen musste die Regierung bereits die Einführung einer Einkommensuntergrenze für die staatliche Heizkostenbeihilfe für Rentner teilweise zurücknehmen. Die geplante Abschaffung einer der letzten allgemeinen Sozialleistungen Großbritanniens hatte eine Welle der Empörung hervorgerufen und wie kein anderes Vorhaben die Labour-Umfragewerte dramatisch abstürzen lassen.

Keir Starmer und Rachel Reeves begründen all dies mit einem gigantischen Haushaltsloch, das die Tories hinterlassen und angeblich vertuscht hätten. Doch zugleich machen sie selbst gigantische Investitionsversprechen, etwa in Atomkraft oder Rüstung.

Bringt sich Finanzministerin Reeves bereits in Stellung?

Immer wieder zeigt sich: Labour sitzt zwischen den Stühlen, gefangen zwischen Wahlkampfversprechen und Wirklichkeit. Das seines Inhalts beraubte Behindertenhilfegesetz steht für eine ihres Inhalts beraubte Regierung. Es sollte Ausgaben einsparen – stattdessen, so rechnen Ökonomen vor, wird es sie sogar erhöhen. Starmers Regierung hat nun „alle Einsparungen, die sie in diesem Jahrzehnt plante, wieder ausradiert“, analysiert der sozialpolitische Thinktank „Resolution Foundation“.

Nun muss Finanzministerin Reeves in ihren nächsten Staatshaushalt bis zu 5 Milliarden Pfund wieder einstellen, die sie eigentlich schon gestrichen hatte. Und am Dienstag veröffentlichte die Haushaltsprüfbehörde OBR neue ungünstige Prognosen, die ein deutlich höheres Haushaltsdefizit bedeuten könnten als veranschlagt. Steuererhöhungen im Herbst gelten jetzt als alternativlos – der Bruch eines zentralen Wahlkampfversprechens.

Schon fragen erste Stimmen, wer Labour wohl in die nächsten Wahlen 2029 führen wird. Auf die Frage im Parlament, ob Reeves als Finanzministerin im Amt bleibe, umschiffte Starmer am Mittwoch eine klare Antwort. Während Reeves zu Starmers Linken mit den Tränen kämpfte, saß zu Starmers Rechten eine zufriedene Vizepremierministerin Angela Rayner, prominenteste Vertreterin des Arbeitnehmerflügels in der Partei. Im ITV-Frühstücksfernsehen war sie zuvor gefragt worden, ob sie Premierministerin werden will. „Nein“, antwortete sie grinsend und fügte hinzu: „Ich bin sehr interessiert daran, für die Menschen dieses Landes zu liefern.“

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2 Kommentare

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  • Während für Atomkraft und Rüstung Milliarden versprochen werden, wird beim Lebensnotwendigen gekürzt. Wer so haushaltet, gibt nicht nur das sozialdemokratische Wertefundament auf, sondern die eigene Glaubwürdigkeit gleich mit.

    Was bleibt?



    Eine Regierung ohne Richtung – und eine Bevölkerung, die sich einmal mehr verraten fühlen dürfte. Das ist nicht nur „chaotisch“ – das ist brandgefährlich für jede Idee von solidarischer Gesellschaft.

  • Vor ein paar Jahren hätte man noch behauptet, die EU sei an allem Schuld. Leider haben es damals zu viele geglaubt.