Grenzjournalisten über Migration: „Stress mit vereinzelten Peaks“

Die Graphic Novel „Der Riss“ von Carlos Spottorno und Guillermo Abril handelt von Migration. Ein Gespräch über Solidarität, Grenzen und Frontex.

Ein Geflüchteter sitzt auf einem Laternenpfahl

Manche Geflüchtete werden direkt nach dem Grenzübertritt wieder zurückgedrängt (Archivbild 2014) Foto: ap

taz am wochenende: Im Zuge Ihrer Berichterstattung an den Außengrenzen der EU wurde Ihnen teilweise der Zugang zu bestimmten Zonen oder der Austausch mit Flüchtlingen und NGOs untersagt. War das immer legal?

Guillermo Abril: Die Verbote, die angeblich dem Personenschutz dienen sollten, waren teilweise lächerlich. Nach dem Motto „Unterhalten dürft ihr euch nur außerhalb der Zone“. Manchmal wollte man aber auch verhindern, dass wir Zeugen illegaler Vorgehensweisen wurden. Wie zum Beispiel bei „heißen“ Abschiebungen.

Wenn Migranten gleich nach dem Grenzübergang wieder zurückgedrängt werden, wie in Melilla, der spanischen Exklave an der marokkanischen Küste?

Abril: Ja. Manche Beamte sehen nicht ein, dass Migranten, sobald sie einen Fuß auf EU-Boden setzen, das Recht haben, zur nächsten Polizeistation zu gehen und Asyl zu beantragen, obwohl sie illegal über den Zaun gesprungen sind.

Carlos Spottorno: Grenzgebiete sind überall auf der Welt sensible Zonen, wo uns Journalisten nicht unbedingt alles gezeigt werden muss. Insofern waren die Einschränkungen nicht illegal. Letztlich hatten wir auch genug Zugang, um ein Gefühl für das absichtlich Verborgene zu entwickeln.

Aber die bürokratischen Hürden dafür waren hoch?

Abril: Um auf ein Boot der Operation „Mare Nostrum“ zu gelangen, haben wir über 50 E-Mails und Briefe hin und her geschickt. Der bürokratische Weg ist komplex. Aber am Ende hat es geklappt.

Spottorno: Ich glaube, die Zeit war auch reif dafür. Damals, 2014, waren die Italiener allmählich von der Situation überfordert und ließen erste Journalisten an Bord, damit die Tragödien, und letztlich auch die Rettungskosten, mit dem Rest Europas geteilt werden. Tatsächlich arbeiteten sie ja nicht nur an den Grenzen Italiens, sondern der EU.

Carlos Spottorno wurde 1971 in Budapest geboren. Studierte Kunst, arbeitete in einer Werbeagentur, bevor er 2001 zur Dokumentarfotografie und in den Journalismus wechselte.

Guillermo Abril wurde 1981 in Madrid geboren. Studierte Recht, Wirtschaft und Journalismus. Seit 2007 Reporter bei El País Semanal und Dokumentarfilmer.

„Der Riss“ Ende 2013 ertranken 366 Migranten vor Lampedusa. Abril und Spottorno begannen eine umfassende Recherche. Über zwei Jahre belieferten sie die spanische Tageszeitung El País mit preisgekrönten Reportagen. Aus den Dokumentar­fotografien entwickelten sie nun eine Graphic Novel über Migration, Flüchtlingskrise und Grenzschutz. Ihr Buch liegt auf Deutsch im Avant-Verlag vor (176 Seiten, 32 Euro).

Ihre Foto/Comic-Reportagen führen dann über Kroatien, Griechenland bis nach Finnland an die Nordostgrenze der EU. Offenbar begleiteten Sie auch Nato-Übungen, wie das Training ukrainischer Truppen mit kanadischen und US-amerikanische Soldaten?

Spottorno: Dort waren wir willkommen. Denn die anderen Journalisten, die aus der Region über den Ukrainekonflikt hätten berichten können, waren bereits weitergezogen. Der Medienfokus lag schon woanders, nämlich auf Syrien.

Abril: Uns hatte die Frage interessiert, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Ausbau der Nato-Truppen an der Ostgrenze und der russischen Präsenz in Syrien gibt.

Sie thematisieren in Ihrem Werk „Der Riss“ auch, dass die Abmachungen des Westens mit Russland, die keine dauerhaften Nato-Stützpunkte im Baltikum vorsehen, umgangen würden. Der militärische Ausbau scheint tatsächlich massiv …

Abril: Es gibt zum Beispiel spezielle Container, die mit einem ungeheuren Aufwand an Technologien ausgestattet sind. Man kann das komplette Teil ­innerhalb von 24 Stunden von Italien nach Litauen umsiedeln.

Werden die Russen für Idioten gehalten?

Abril: Sie tun ja das Gleiche! Da kündigen sie eine Übung mit 10.000 Soldaten an ihrer Westgrenze an, doch in Wirklichkeit sind es 90.000.

Spottorno: Es ist wie ein Spiel. Wir stellen uns militärische Institutionen immer rational vor. In Wirklichkeit aber testen beide Seiten ständig, wie weit sie gerade gehen können. Das ist großes Theater, an dem wir alle beteiligt sind. Und alles, was einem bleibt, ist zu hoffen, dass wir unsere Rollen friedlich spielen.

Auch Ihre Rolle als Journalisten?

Abril: Ja, wenn wir über die eine Seite berichten, erfährt die andere davon.

Spottorno: Auch du spielst jetzt gerade mit.

Von einem Bericht zum nächsten gibt es aber viel Raum für Interpretationen.

Spottorno: Genau. Deswegen ist es wichtig, Bücher zum The­ma zu machen: solide Objekte, für deren Inhalt man die volle ­Verantwortung übernimmt.

Kann Journalismus das nicht?

Spottorno: Der Journalismus scheitert heute vor allem an seiner Aufgabe, einen klaren Überblick zu vermitteln. Nicht weil er das nicht versucht, sondern weil niemand mehr Acht gibt. Wir nehmen Infos auf sehr fragmentierte, teilweise verzerrte Weise wahr.

Abril: Die großen Storys, die El País Semanal publiziert, werden auch von Jahr zu Jahr kürzer. Unsere Onlineleser widmen einem Artikel im Durchschnitt gerade mal 40 Sekunden – es liest kaum jemand eine Geschichte bis zum Ende. Dabei gibt es bei Online eigentlich gar kein Ende! Man klickt sich einfach weiter und weiter.

Wie kam der Wunsch auf, Ihre journalistischen Texte und Fotos in einer Graphic Novel aufzuarbeiten?

Spottorno: Vor ein paar Jahren las ich „Pjöngjang“ von Guy Delisle. Und ich dachte, das ist ein Comic und zugleich die beste Reportage, die ich je über Nordkorea gelesen habe. Oder Marjane Satrapis „Persepolis“. Durch diese Graphic Novel ist mir vieles über die iranische Revolution klargeworden. Und so fragte ich Guillermo, ob wir das Comicgenre zur Schilderung der Lage an den Grenzen Europas nutzen wollten.

Abril: Und ich stimmte sofort zu! Ich glaube, wegen Hergés „Tintin“ bin ich überhaupt erst Journalist geworden.

Der Titel „Der Riss“ spielt auf die tiefen Gräben an, die Europa spalten und die es an den Außengrenzen zum Rest der Welt errichtet. Ihr Buch endet tatsächlich äußerst pessimistisch. Sind wir in einer Art Krieg?

Spottorno: Einiges deutet darauf hin. Das scheint aber ein neuartiger Krieg zu sein: eine ständige Stresssituation mit vereinzelten Peaks, ohne dass die Lage als unerträglich empfunden wird. Irgendwie scheinen wir uns daran gewöhnt zu haben, dass jeden Augenblick ein Lkw in eine Menschenmenge fahren kann, dass wir weniger verdienen als noch vor zehn Jahren, während zugleich alles immer teurer wird. Die Produktion steigt, und gleichzeitig mit Ihr die Zahl der Klimaflüchtlinge.

Abril: Wir haben gelernt, Geschichte in abstrakten Daten zu lesen, aber ohne die langfristige Entwicklung der jeweiligen Groß­ereignisse zu begreifen. Wenn Europa sich auflöst, wird das nicht von einem Tag auf den anderen passieren. Zunächst werden die Innengrenzen trotz Schengen wieder kontrolliert, dann tritt ein erster EU-Mitgliedstaat aus. Ist ja schon passiert. Was kommt als Nächstes? Heute nehmen viele Kataloniens Unabhängigkeitsbestrebungen nicht ernst. War das auch so, als es 1934 seine Unabhängigkeit verkündete, also zwei Jahre vor dem Spanischen Bürgerkrieg? Wir sollten uns darüber viel mehr Gedanken machen.

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