Grass-Ausstellung in Lübeck: Tanz den Literaturnobelpreisträger
Günter Grass und das Tanzen ist das Thema einer Ausstellung in Lübeck. Da ist eine Mini-Love-Parade zur Eröffnung doch nur folgerichtig. Oder?
N orddeutsche Stadtentwicklung in der Nussschale: „Früher wurden hier Schiffe gebaut“, schreiben die Betreiber:innen der Gollan Kulturwerft – „heute sind die alten Werfthallen der Kulturstandort in Lübeck“. Das „der“ muss dabei wohl bedeutungsschwer ausgesprochen werden, denn so wenige „Kulturstandorte“ gibt es ja gar nicht in der backsteinschönen Hansestadt – allein der Literatur sind hier zwei Ausstellungshäuser gewidmet. Gut: Das Buddenbrook-Haus kriselt derzeit etwas, und ganz unproblematisch ist der Hausherr und Namensstifter der anderen Institution auch nicht: Günter Grass (1927–2015).
Für manche jedenfalls hat der Ruf des Literaturnobelpreisträgers von 1999 doch erkennbar Schaden genommen durch seine sehr spät öffentlich thematisierte Waffen-SS-Mitgliedschaft und sein Israel zum potenziellen Kriegstreiber stilisierendes Gedicht von 2006. (Dass es manchen sich Empörenden sehr gelegen gekommen sein muss, dem überzeugt sozialdemokratischen Verfasser der „Blechtrommel“ als verlogenem Gutmenschen am Zeug flicken zu können: Das wäre heute nicht anders.)
Grass Tanzbar – oder tanzbar? ist die soeben eröffnete Sonderausstellung im Lübecker Günter-Grass-Haus betitelt. Bis Anfang kommenden Jahres zeigt sie Manuskripte, Grafiken, Lithografien und Plastiken zum Thema Tanz. Das Zentrum bildet eine Drehbühne mit, eben, einer Bar.
Nicht überraschend, dass sie in Lübeck wohlwollender auf Grass blicken, der ab 1987 etwa 25 Kilometer südlich im Kreis Ratzeburg lebte. Seit 2002 würdigt ein – ausdrücklich unabhängiges – „Günter Grass-Haus“ auch das malerische und plastische Schaffen des gebürtigen Danzigers. Untergebracht ist die Einrichtung in dem Haus in der Glockengießerstraße, in dem er zwei Jahrzehnte lang Sekretariat und Archiv unterhalten hatte.
Dort gibt es einen sehr schönen, idyllischen Innenhof. Aber als nun die Vernissage für die neue Sonderausstellung „Grass tanzbar“ auszurichten war, ging man dafür vom kleinen eigenen Museum eben in die „Kulturwerft“.
Immer wieder übers Tanzen geschrieben
Denn so kurios das Thema der Schau vielleicht wirken mag, wollte man es doch umso mehr krachen lassen. Aber was heißt kurios? Günter Grass soll ein begeisterter Tänzer gewesen sein, seine erste Ehefrau Anna jedenfalls hatte es richtiggehend gelernt. Auch geschrieben hat der Schriftsteller immer wieder übers Tanzen.
Entsprechend zusammengestellte Textstellen – von Grass, klar, aber etwa auch Karoline von Günderrode, Mascha Kaléko und Ralf Rothmann – trugen vor voller Halle jetzt Die Spielkinder vor. Das sind die Schauspielerin Lina Beckmann, ihre Geschwister Maja und Till sowie dessen Ehefrau Jennifer Ewert. Na gut: Charly Hübner, Lina Beckmanns Mann und eine Art Star, war auch dabei.
Dieser gut gelaunte Familienbetrieb also begleitete sich selbst dann und wann musikalisch. Irgendwann kam noch die Seiltänzerin Ea Paravicini hinzu, übte ihre Kunst nervenschonenderweise aber nur zwei Meter über dem Boden aus.
Dazu anständigen Weißwein
Dass eine im Spielkinder-Programm nun nicht berücksichtigte Textstelle Grass’ Faszination für die Love Parade abbildet – zu finden im Buch „Mein Jahrhundert“ (1999) –, führte zum vielleicht kuriosesten Programmpunkt: Love-Parade-Gründer Dr. Motte war für ein Zwei-Stunden-Set gewonnen worden, mithin der Headliner des Eröffnungsabends.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Es schlossen sich also allerlei Kreise; darin, dass Techno, andernorts längst Museumsobjekt, auf eine Art an seine Ursprünge zurückkehrte, nämlich in umgenutzte Industriearchitektur, kann man ja auch als so einen erkennen. Natürlich ist eine schmuck hergerichtete Event-Immobilie nicht dasselbe, wie es wirklich sich selbst überlassene Ex-Industrie- oder Militäranlagen sind. Nein, hier traf die frisch zum immateriellen Unesco-Kulturerbe gewordene „Technokultur in Berlin“ auf das höchst materielle Welterbe namens Lübeck (seit 1987 gelistet), und dazu gab es anständigen Weißwein.
Überraschen konnte, wie begeistert sich hier weiß Gott nicht mehr jugendlich-überschwängliche Besucher:innen motivieren ließen von Mottes Bewegungsangebot.
Günter Grass konnte aus gegebenem Anlass selbst nicht mehr mitraven – wenn das ohne die Option auf eine ganze exzessive Nacht überhaupt so heißt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich