Graphic Novel „treiben“: Birke, Birke, Birke, Lust, Lust
In Bernadette Schweihoffs Comic reist ein Paar mit der Transsibirischen Eisenbahn. Dessen Entstehung wird in einer Galerie in Berlin vorgestellt.
„Wir können uns nur schwer mit Orten identifizieren, die zu entlegen sind“, schreibt die Autorin Sophy Roberts in ihrem 2020 erschienenen Roman „Sibiriens vergessene Kinder“. Aktueller denn je ist dieser Satz, scheinen uns Europäer*innen geografisch der Ukrainekrieg und seine Opfer doch sehr viel näher als ähnliche Gräueltaten anderswo auf der Welt.
Mit ebendiesem Satz beginnt auch Bernadette Schweihoff ihre Graphic Novel, die gleichzeitig Tagebuch und Reisebericht ist. In „treiben“ nimmt uns die in Berlin lebende Illustratorin mit auf eine Fahrt in der Transsibirischen Eisenbahn quer durch Russland – was gerade kaum entlegener wirken könnte. Entstanden sind die Zeichnungen bereits im Winter 2019/2020, – kurz bevor das Reisen pandemiebedingt erst mal unmöglich wurde. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis zum Beginn des Angriff Russlands auf die Ukraine.
Mit 9.288 Kilometer Distanz ist die Transsibirische Eisenbahn – abgekürzt Transsib – die längste Zugstrecke der Welt. Von Moskau bis in die Hafenstadt Wladiwostok am Japanischen Meer unweit der nordkoreanischen Grenze fährt sie in acht Tagen ganze 400 Bahnhöfe an. Schweihoff und ihr Freund Frank verbringen die meiste Zeit auf sieben Quadratmetern in einem Abteil, in dem es nach „Zwiebeln und Tiger Balm“ riecht.
Drinnen hat es konstant 25 Grad, während draußen der sibirische Winter bei Minus 21 Grad an den Reisenden vorbeizieht. Diesen Kontrast fängt Schweihoff zeichnerisch auf; färbt das Innere des Zuges rot, während draußen blau getönt die Birkenwälder vorbeirauschen.
Sexuelle Fantasie dank Langeweile
„Birke, Birke, Birke, Lust, Lust, Birke, Birke, Lust, Birke, Birke“ ist der Rhythmus, der den Alltag des Liebespaares bestimmt und sich wie ein onomatopoetisches Gedicht auf dem Buchrücken des Comics wiederfindet. Das enge Beisammensein im Zugabteil, die Hitze sowie vielleicht auch die Langeweile heizen die sexuelle Fantasie des Paares an.
Besonders Schweihoff selbst scheint immer wieder in sie einzutauchen, reist gedanklich aus der Transsib hinein ins Berliner KitKat und masturbiert zu ihren Erinnerungen an den für sie so magischen Fetischklub.
„Ich habe mich zweimal in meinem Leben sicher und frei gefühlt. […] samstags im KitKatClub und auf der Transsib“, heißt es auf einer Seite. Worin genau diese Freiheit besteht und was diese beiden doch sehr verschiedenen Orte miteinander verbindet, wird leider nicht ganz deutlich. Überhaupt ist der schriftliche Teil so fragmentarisch, dass sich für die*den Lesenden keine zusammenhängende Erzählung ergibt.
Bernadette Schweihoff: „Treiben“. Edition Moderne, Zürich 2022. 168 Seiten, 24 Euro.
Die Ausstellung zum Comic ist noch bis 29. Mai in der Kommunalen Galerie in Berlin-Wilmersdorf zu sehen. Dienstag bis Freitag, 10–17, Uhr, Mittwoch 10–19 Uhr, Wochenende 11–17 Uhr. Ein Künstlerinnengespräch wird am 15. Mai um 14 Uhr stattfinden. Zur Finissage am 29. Mai von 14 bis 17 Uhr wird die Künstlerin ebenfalls anwesend sein.
Orte und Zufallsbekanntschaften tauchen auf, verschwinden aber gleich wieder, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Das ist schade, denn gerade jetzt wäre es schön, Russland und seine Bewohner*innen noch mal anders zu erleben. An einer Stelle erwähnt Schweihoff „die russische Seele“, doch außer, dass sie im Dostojewski’schen Sinne melancholisch sei, wird sie einem nicht nähergebracht.
Hinein in die Privatsphäre einer Beziehung
Es sind – und das ist im Falle einer Graphic Novel wohl auch entscheidender – die Zeichnungen, die „treiben“ zu etwas Besonderem machen. Mit Bleistift skizziert und später am Computer nachcoloriert, transportieren Schweihoffs Bilder nicht nur gekonnt Innen- und Außentemperaturen, sondern auch die zwischen zwei Menschen: mal hitzig aneinandergeschmiegt, dann wieder getrennt, jede*r für sich den Gedanken nachhängend.
Schweihoff gelingt es so, den*die Betrachter*in mitzunehmen in die Privatsphäre einer Beziehung, wobei man sich erstaunlicherweise nicht als Eindringling fühlt, sondern dazugehörig.
Explizit und erregend sind die Zeichnungen bisweilen. Schweihoff fokussiert sich dabei auf den weiblichen Körper und seine Lust, ohne dabei je voyeuristisch zu wirken. Damit folgt sie einer Bewegung, die die feministische Perspektive auf Weiblichkeit und Sexualität fernab des sogenannten Male Gaze zelebriert. Ähnlich, wie es in den Pornofilmen der schwedischen Regisseurin Erika Lust der Fall ist, für deren Webseite Schweihoff 2020 Illustrationen beisteuerte.
„treiben“ ist nicht nur Schweihoffs erste größere Comic-Veröffentlichung, es ist auch ihre Abschlussarbeit für den Bachelor an der privaten University of Europe for Applied Sciences Berlin (ehemals BTK). Den Entstehungsprozess begleitend, zeigt die Kommunale Galerie am Fehrbelliner Platz noch bis Ende Mai eine Ausstellung. In ihr sind neben ersten Skizzen auch Schnappschüsse zu sehen, die zeigen, wie Schweihoff die Reise mit der Transsib dokumentierte. Sie bringen einem das Land tatsächlich etwas näher und lassen es nicht ganz so entlegen wirken.
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