: Glückliches Berlin
Ab Montag ist auch der Bundestag ein Berliner, Stück für Stück komplettiert sich die Hauptstadt. Ob das alles gut wird? – Schauen wir mal. Zum Beispiel bei Daimler City am Potsdamer Platz, die vor einem knappen Jahr feierlichst eröffnet wurde. Notizen von Dorothee Wenner und Helmut Höge
Wer hätte allen Ressentiments gegen die Neue Mitte ein schrecklicheres Antlitz geben können als diese merkwürdigen Typen, die debis für Werbevideos und Plakatwände auf den Potsdamer Platz fantasierte: Da sah man kaufkräftige junge Familien mit penetrant guter Laune; Aktentaschenträger und urbane Karrierefrauen mit prallen Einkaufstüten. – Ein Jahr nach der Inbetriebnahme bevölkern nunmehr echte Menschen die Arkaden, Bars und Vergnügungsstätten rund um den Marlene-Dietrich-Platz. Und es sind mehrheitlich Personen, die – eben weil sie so wenig mit dem computersimulierten Wunschpublikum der Projektentwickler gemein haben – einen Ausflug zum Potsdamer Platz auch tatsächlich zu einem interessanten Erlebnis machen.
In seltsamem Kontrast zum faktischen Privateigentum des Geländes scheinen die meisten Besucher es weiterhin als „Niemandsland“ zu respektieren. Und genau darin besteht seine Attraktivität: Weil alles neu ist, erheben weder Kiezgrößen noch alteingesessene Hausmeistertypen oder neu zugezogene Yuppies als überidentifizierte Scheinsesshafte Anspruch auf die Revierhoheit. Der achtzehnjährige Thailänder Ek Parttong erkannte das gleich bei der Eröffnung mit einer bis heute ungebrochenen Begeisterung: „Mir gefällt's da so gut, weil es so aussieht, als hätten die Bangkok nachgebaut.“ Merkwürdigerweise sagt seine Freundin Maria Eczevan aus Mexico-Stadt genau dasselbe. Und in der Tat hat die viel geschmähte Architektur der neuen Mitte die hervorstechende Eigenschaft, sich unauffällig den etwas gesichtslosen Innenstädten der so genannten Dritten Welt anzunähern. In Shanghai, Kuala Lumpur oder São Paulo gibt es zum Verwechseln ähnliche Komplexe, meistens nur viel größer. Das führt einerseits dazu, dass sich beispielsweise chinesische Besucher aus lauter Höflichkeit zum Staunen über „die größte Baustelle Europas“ hinreißen lassen, wenn sie merken, dass das von ihnen erwartet wird. Andererseits vermittelt gerade diese Austauschbarkeit vielen nichtdeutschen Berlinern ein Gefühl von heimatlicher Vertrautheit.
Herny und Justine etwa, zwei junge Studentinnen aus Jakarta, haben den „Asia-Pavillon“ in den Arkaden zu ihrem neuen Hang-out gemacht. „Wir treffen uns hier mindestens einmal in der Woche zum Spazierengehen und Einkaufen. Genau wie bei uns zu Hause in den Shopping-Malls kann man auf dem Potsdamer Platz schön seine Freizeit verbringen: Alles ist unter einem Dach, das ist praktisch und im Winter außerdem nicht so kalt.“
Was die jungen Menschen aus Asien nicht gern preisgeben und die erwachsenen Soziologen kaum noch mitbekommen: Die ganze Stadt ist in mehr oder weniger feindliche Mikroterritorien von Jugendgangs aufgeteilt, zumindest wird das befürchtet – bis auf dieses neutrale Bermudadreieck.
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Das, was auf die Kiezkämpfer aller Couleur so beklemmend wirkt, macht die Potsdamer-Platz-Kulissen so anziehend: Niemand guckt misstrauisch: „Was will denn das Schlitzauge hier?!“ – im Gegenteil hofft jeder, dort „Menschen aus aller Welt“ zu treffen – wenn nicht gar zu erleben. Selbst vernagelte Neonazis aus Sömmerda und fanatische Abtreibungsgegner aus dem Allgäu sind an diesem Nichtort nur eine weitere Rasse, die dem Besucher vorgaukelt, Gottes Gestaltungswille sei grenzenlos. Und so ist der Platz zwischen der gläsernen Bugarchitektur, die aggressives Sichdurchsetzen auf allen Weltmeeren signalisieren soll, wie kaum ein anderer auch und gerade für erste, noch schüchterne Rendezvous geeignet. Die um so prekärer sind, je ganggeprägter die Betreffenden sonst agieren. Das trifft auch auf den Würzburger Techniker Dieter Marwedel zu, der sich hier mit einem nichtrauchenden, aber einfühlsamen „Suchkontakt“ verabredet hat. Aus dem Todesstreifen der Systeme wurde eine neutrale Zone für Lebenshungrige.
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Fatma Sömnez, Kosmetikerin aus Kreuzberg, ist mit Mann und Kind ganz in die Nähe des Potsdamer Platzes gezogen. „Bei uns ist immer noch alles ständig verstaubt, daran merkt man, dass die Bauarbeiten noch lange nicht zu Ende sind. Aber das macht nichts: Ich genieße die Nähe zu den Arkaden sehr. Besonders wenn wir nach einem langen Arbeitstag in Kreuzberg dort spazieren gehen, empfinde ich die schöne Ästhetik wie ein Eintauchen in eine andere Welt. Das ist sehr erholsam, alles ist so sauber und gepflegt. Da wirkt auch das Essen viel appetitlicher, sogar bei McDonald's.“
Der von Moskau nach Prenzlauer Berg übergesiedelte Dramaturg Wladimir Kaminer mag den Potsdamer Platz vor allem, weil er gerade die gigantomanischen Entwürfe, „die ja alle gescheitert sind“, schätzt. Er denkt dabei vor allem an ABM-Großprojekte – in Russland BAM genannt: Baikal-Amur-Magistrale. Auch dieser Wahnsinn inmitten der Eiswüste zog einmal als „Urban Entertainment Center“ die internationale Dorfjugend auf Partnersuche in Massen an. Voller Enthusiasmus. Im neuen „Berlin-Berlin“-Buch des scheidenden Berliner Spiegel-Büroleiters Michael Sontheimer gibt der gefeuerte Sicherheitsingenieur der debis-„Baustelle Potsdamer Platz“ jedoch zu bedenken: „Man darf nicht vergessen, das Ganze ist von süd- und osteuropäischen Sklaven errichtet worden!“
Ein bisschen ist davon immer noch spürbar: So kündigte beispielsweise der Inder Riad Basu, der als Verkehrsexperte bei debis angeheuert hatte, gerade wieder seinen Job am Potsdamer Platz, weil er sich trotz Hochlohn dort zu sehr ausgebeutet fühlte: Seine Freundin sollte er sich abschminken und sich statt dessen ein Handy zulegen, um immer erreichbar zu sein. Nicht einmal für sein Diplomexamen bekam er frei.
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Eine kleine Kneipenumfrage in Friedrichshain lässt die Vermutung zu, dass die „echten“ Berliner auch in Zukunft keinen Anspruch auf dieses Terrain erheben werden. Niemand am voll besetzten Tresen wusste etwas Schönes oder Gutes über den Potsdamer Platz zu sagen. „Für mich ist die ganze Gegend nach wie vor Brachland, daran hat sich nichts geändert“, meint der erste Michael, Sinter. Der zweite Michael, Scherer, berichtet von seinem letzten Ausflug, bei dem er zwar sämtliche Kneipenstühle voll besetzt vorgefunden habe, „aber lange nicht mehr so viele unhippe Typen auf einem Haufen!“
Den Besuchern von außerhalb entgeht das Fernbleiben der Hauptstädter aus der „Erlebniswelt im Herzen Berlins“ (debis) nicht, vermisst werden sie ebenso wenig. Frau Nitschke aus Rostock: „Die Berliner sind – wie so oft – voller Vorurteile und bringen sich damit um manches Vergnügen. Das gilt sicher auch hier für den Potsdamer Platz: Wir Touristen sind da viel unbefangener.“
Manche Berliner verhalten sich unterdes wie Touristen in der eigenen Stadt. Die Kreuzbergerin Patricia geht ab und zu zum Potsdamer Platz, wenn sie entspannt einkaufen oder mal alleine ausgehen will – und sicher sein möchte, niemand Bekannten zu treffen. Es ist dort bereits eine gewisse Zentripedalkraft wirksam: Das bambusgesäumte Feuchtsoziotop versammelt die Touristen und ihre Liebe zum Fremdeln – und hält sie zusammen.
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„Das Beste am Potsdamer Platz ist, dass man jetzt wieder eine neue Anlaufstelle hat, wenn die Eltern zu Besuch kommen“, meint Stefanie Kleinschmidt. Ihr Vater, ein Hobbyfotograf, hat gleich zwei Filme dort verknipst. Einige ThailänderInnen hätten sich sogar bedankt dafür, dass er sie knipste. Brigitte Kolb aus Friedenau äußert sich ähnlich: „Ich war bisher nur am Potsdamer Platz, wenn wir Besuch aus Westdeutschland hatten. Man muss da nicht so viel reden. Es reicht, sich die Leute anzukucken und den Handygesprächen zu lauschen.“ Marianne Kuhlmann und ihr Mann sind allein unterwegs, zu Besuch aus Bad Hersfeld: „Unsere Kinder wollten heute Morgen nicht mitkommen, aber das kennen wir ja schon, die wollen sich nie das ansehen, was uns interessiert. Wir haben die Bauphase ja intensiv im Fernsehen verfolgt, aber wenn man das in realiter sieht, ist das absolut überwältigend. Wir als Kleinstädter empfinden das natürlich auch als Gigantomanie.“
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Das Spielcasino am Potsdamer Platz mit seinem scheinbaren Zweiklassensystem ist vor allem was für Autotouristen, die nicht in den Genuss des Berliner Erlebnisraumes U- und S-Bahn kommen. Die Croupiers an den Roulette-Tischen sagen statt „Rien ne va plus“ „Zurückbleiben!“ Olga Gura, aus einer Leningrader Spielerfamilie stammend, behauptet: „Das haben sie auch schon im Casino am Europa-Center immer gerufen!“
Als Neueinsteiger dürften die drei Wilmersdorfer Witwen Hildegard Bremer, Monika Harff und Brigitte Seelig gelten. Sie reisen mit dem BVG-Bus einmal im Monat aus der Blissestraße an – und bummeln erst mal in den Arkaden. Gekauft wird höchstens etwas bei Aldi. Anschließend gehen sie dann „auf ein Stündchen“ in die Spielbank. Wir trafen sie an einem lauen Sommerabend an einem Bistrotischchen vor dem Kasino. Sie hatten je fünfzig Mark verspielt und sich dann Bier und Bratkartoffeln gegönnt. Unsichtbar für die Kellner ergänzten sie ihre Mahlzeit mit mitgebrachten Klappstullen und beobachteten interessiert die aus- und eingehenden Kasinogäste. Vielen „Spielern“ reicht es bereits zuzuschauen, wie etwa eine Gruppe von Arabern – an allen Roulette-Tischen gleichzeitig vertreten – alle paar Minuten 5.000 Mark und mehr verliert: „Ganz schön blöd!“
Darüber hinaus veröffentlichte der Berliner Verlag „Das Arabische Buch“ gerade eine wissenschaftliche Forschungsarbeit über „Das Glückspielverhalten junger Vietnamesen in Berlin“. Achtzig Prozent seien Touristen, schätzt Casino-Barkeeper Oliver Rothers aus Schöneberg, dem sein Arbeitsplatz dort vorkommt „wie auf dem Mond“. Noch nie in seiner gesamten Keeperlaufbahn habe er so viele „Berliner Weiße“ – die kein Berliner trinkt – verkauft wie gerade am Potsdamer Platz! In der Sparkassenfiliale, wo man sich anhand der Abbuchungen ein ziemlich exaktes Bild von den Besuchern machen kann, weil man Informationen über die Herkunft der Kunden hat – kann man die Barkeeper-Beobachtung „nur bestätigen“.
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Und noch etwas macht sich in dieser „Erlebniswelt im Herzen Berlins“ breit: das Ibiza-Gefühl, vor allem durch die dort vorwiegend getragene Freizeitkleidung. Bunte Anoraks, helle Polohemden, teuer und bequem. Der Gang ist stockend, gleichsam ein Versuch, ins Schlendern zu geraten. Es gibt keinen hier, der nicht den verrückten Flaneur der Pariser Passagen kennt: mindestens in seiner neuesten Filmversion – mit Hugh Grant als Walter Benjamin.
Umständlich wird ein freier Platz gesucht. Viele Frauen wischen vor dem Essen mit ihrem Taschentuch noch einmal unauffällig über den an sich sauberen Tisch. Lassen neugierige Blicke schweifen, deuten heimlich auf ein Pärchen am Nebentisch. Es ist alles ein bisschen so ausgeflippt wie im richtigen Urlaub.
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Letztes Jahr Silvester wurden wir Zeugen, wie sich eine etwas vereinsamte Gruppe Japaner mit einer Schweizer Reisegesellschaft anfreundete. Obwohl man sich kaum verständigen konnte, wurde –und es war noch vor Mitternacht – Brüderschaft getrunken. Die Initiative für die Durchführung des Rituals ging von den Japanern aus, die immer wieder auf den entsprechend illustrierten Paragraphen in ihrem Reiseführer zeigten.
In der Warteschlange der gläsernen Touristen-Information kamen wir mit Familie Bruns aus dem Vogtland ins Gespräch. „Wunderschön, wir sind schon zum zweiten Mal hier. Wirklich eine ganz tolle Bummelmeile, aber einkaufen tun wir hier nicht. Wenn man das schon sieht, so 'ne Halskette, Stück Blech am Lederriemen für 600 Mark – das ist doch Wahnsinn! Wir verbringen hier schöne zwei, drei Stunden, dann gibt's für jeden einen Eisbecher.“
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