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Gipfel-Nachbarn Anarchisten, Künstler und Migranten bevölkern das Karoviertel, das direkt an den G20-Tagungsort grenztDie linke Puppenstube

von Jan Kahlcke

Aus dem „Hinterconti“ kommen zwei junge Frauen, höchstens Anfang 20. Ihr taillenlanges Haar weht in der Abendluft. Sie tragen Stiefel, die irgendwie an Pferde denken lassen. Und an ein dickes Portemonnaie. Die eine geht zum Einsatzleiter, ein bulliger Typ, dessen Volumen durch den Schlagschutz unter seiner Uniform auf das Anderthalbfache vergrößert ist. Sie fragt ihn etwas und zeigt auf ein schwarzes BMW-Coupé am Straßenrand. Er zuckt nur mit den Achseln und deutet auf die Menge vor ihm. Aus fast dreitausend Kehlen schallt es ihm entgegen: „Ganz! Hamburg! Hasstdiepolizei!“ Die andere junge Frau drückt sich in einen Hauseingang und weint hemmungslos in ihr Handy.

Fans des FC St. Pauli sind nach dem Heimspiel die paar Hundert Meter vom Stadion in einer Demo gegen den G20-Gipfel herübergezogen. Bis zum Tagungsort in den Messehallen dürfen sie nicht. Stattdessen schlängeln sie sich kreuz und quer durch die engen Straßen des Karolinenviertels. Polizisten haben die Marktstraße abgeriegelt, Helm auf, Hand am Knüppel. Fast wie früher.

Im Karoviertel prallen Welten aufeinander, wie jetzt mit den linken St.-Pauli-Fans und den Besucherinnen des „Hinterconti“. Auch das ist irgendwie von früher: Eine Galerie in einer Ladenwohnung, in die eigentlich kaum BesucherInnen hineinpassen.

Typisch Karoviertel. Hier ist alles klein: Das Viertel selbst, eingeklemmt zwischen Schlachthof, Messe und dem Heiligengeistfeld, auf dem dreimal im Jahr der „Hamburger Dom“ seine Buden und Karussells aufbaut. Und winzig sind hier auch viele Wohnungen, die für Schlachthofarbeiter in „Terrassen“ genannten Stichstraßen gebaut wurden. Über die Straßen hinweg kann man sich prima unterhalten, in sie fällt aber selten ein Sonnenstrahl.

An eine dieser Terrassen duckt sich das niedrige Gebäude des Libertären Zentrums. Es hat eine kleine anarchistische Bibliothek. Drinnen wird Gemüse geschnippelt, für die „Küfa“. Das heißt „Küche für Alle“. „Vokü“ für „Volxküche“ wollen sie lieber nicht mehr sagen, wegen des „Volks“ darin. Wie die Anarchisten so in der Frühlingssonne vor der Tür sitzen, sieht nach gemütlicher Landkommune aus. Dabei kann es auch ungemütlich werden: Seit es neulich einen Brandanschlag auf die Messe gegenüber gab, kontrolliert die Polizei dauernd Besucher. Bei den Vorständen des Trägervereins tauchten Beamte bei der Arbeit auf und ließen jeden wissen, wen sie suchten – als „Zeugen“.

Auch das Urban-Gardening-Projekt „Keimzelle“ ist nicht viel größer als anderswo ein Wohnzimmer. Die Karo-Ecke gegenüber macht auf normale Kneipe, nur an zwei kleinen Israel-Fähnchen erkennt man, dass sie zu den Antideutschen gehört. Das Centro Sociale in einem backsteinernen alten Stallgebäude ist eine Art Rote Flora im Miniaturformat, genauso linksradikal, nur mit Mietvertrag und Anwohneranbindung.

Und die legendäre Bauwagenburg mit dem kämpferischen Namen „Bambule“ schaffte es mit ihrer Räumung 2002 zwar bis in die CNN-Nachrichten, bestand aber nur aus einer Handvoll Wagen. Wenn das benachbarte Schanzenviertel der Abenteuerspielplatz von Hamburgs linker Szene ist, dann ist das Karoviertel ihre Puppenstube.

Auch die Läden sind vor allem: klein. Und deswegen: zahlreich. Der indische Hippiebedarfsladen oder der 50er-Jahre-Ausstatter waren schon immer da. Dann kamen die aufstrebenden Mode-Macherinnen, die im Hinterzimmer nähten und die Sachen direkt ins Schaufenster hängten. Und Fachgeschäfte, die in Deutschland ihresgleichen suchen, wie der Plattenladen Groove City. Im Fenster hängt ein Stück Leinen mit dem Aufdruck „G20, du Opfer“.

Inzwischen gibt es auch Boutiquen, in denen man 300 Euro für ein paar Schuhe hinlegen kann. Aber immer noch andere Schuhe als bei den Filialisten in der Innenstadt, keinen Kilometer entfernt. „For shopping to a different beat, head for Marktstrasse in the altogether grittier Karoviertel, a former punk hangout“, empfahl vor ein paar Jahren die Luxusbeilage der Financial Times Hamburg-Touristen. Sonnabends, während des Flohmarkts um die alte Rinderschlachthalle, ist kaum ein Durchkommen.

Die meisten Anwohner nehmen’s gelassen. Das war nicht immer so. Ende der Achtziger musste das ambitionierte Restaurant „Caspari“ wieder schließen, weil die linke Szene „Yuppisierung“ witterte – und eimerweise Scheiße vergoss. 30 Jahre später ist das Karoviertel immer noch nicht durchgentrifiziert.

Das hat ironischerweise mit der Messe zu tun. Die SPD hatte das Viertel zur Messeerweiterung vorgesehen. Die Stadt kaufte großflächig Häuser auf – und ließ sie vergammeln, sie sollten ja weg. Studenten, Linke und Einwanderer zogen in die billigen Wohnungen. Die Messe wuchs doch nicht und die Stadt begann eine behutsame Sanierung. Jetzt fürchten viele, die Stadt könnte an der Mietenschraube drehen.

Jan Kahlcke ist Redaktionsleiter der taz.nord und wohnt seit 28 Jahren meist im Karoviertel.

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