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Gib mir Visionen und keine Apokalypse!

Wir reden erstaunlich wenig darüber, was die Menschen wirklich bewegt:faire Löhne, bezahlbare Mieten, ein Leben in Würde

Die Armut erreicht in Deutschland inzwischen ein Niveau, das man früher nur aus alarmistischen Dokumentationen kannte, und gleichzeitig steigt der Preis für einen Döner so zuverlässig wie die monatliche Miete. Und während immer mehr Menschen an der Supermarktkasse abwägen, ob sie sich heute eher den Joghurt oder die Busfahrt leisten, hält das Land an einer bemerkenswert konsequenten Tradition fest: der Visionslosigkeit.

Deutschland verwaltet seine Zukunft wie einen Ordner voller ungeöffneter Briefe vom Amt. Man ahnt, dass Wichtiges darin steckt, aber man findet immer einen Grund, nicht hineinzusehen. Dabei reden wir erstaunlich wenig über das, was viele Menschen wirklich beschäftigt: ihre Mieten, ihre Löhne, ihre Erschöpfung, ihre stillen Sorgen. Stattdessen konzentrieren wir uns umso stärker auf ein Thema, das sich bestens eignet, um politische Versäumnisse zu kaschieren, soziale Unzufriedenheit umzuleiten oder die Verantwortung für hausgemachte Missstände auf etwas Externes zu projizieren: Migration.

Diese Debatten haben – ob bewusst oder aus reiner politischer Routine heraus – eine bemerkenswert praktische Funktion: Sie sollen Migrantinnen und Migranten frühzeitig daran erinnern, dass ihre gesellschaftliche Daseinsberechtigung in diesem Land streng kontingent ist. Die Rollenverteilung ist dabei übersichtlich: Wer kein Geld in die öffentlichen Kassen spült, wird höflich, aber bestimmt in die Kategorie „abschiebewürdig“ einsortiert. Wer hingegen steuerlich ertragreich ist, darf sich über eine befristete Aufwertung zum „wertvollen Mitglied der Gemeinschaft“ freuen.

So wird – ganz ohne großes Aufsehen – die Legitimität eines menschlichen Lebens an ökonomische Kennzahlen gekoppelt. Eine Art inoffizieller Sozialvertrag, in dem nicht die Menschenwürde, sondern die fiskalische Verwertbarkeit den Ton angibt. Und am Ende bleibt die leise, satirisch anmutende Erkenntnis: Vielleicht ist Integration gar kein kulturelles Projekt, sondern schlicht eine Frage der buchhalterischen Effizienz.

Dabei muss ich euch jetzt alle total überraschen: Migranten wollen nämlich genau das, was Deutsche auch wollen. Man könnte fast sagen, es ist geradezu schockierend banal. Zum Beispiel wollen sie ein sicheres Leben. Oder ein Leben in Würde. Einen fairen Lohn. Eine Miete, die man sich leisten kann, eine stabile Nachbarschaft mit viel Bewegungsmöglichkeiten – und ja, auch einen Döner, der bezahlbar ist. Keine geheimen Pläne, keine exotischen Sonderwünsche. Einfach nur einen Alltag, der sich normal anfühlt. Klingt schon ziemlich krass, dieser Minimalanspruch – oder?

Dieser Minimalanspruch ist unser Recht. Es ist das Mindeste, was uns zusteht. Die Würde des Menschen ist nicht verhandelbar. Es klingt revolutionär, aber auch in Deutschland ist es möglich, dass man vor allem in Krisenzeiten solidarisch mit den Schwächsten unserer Gesellschaft bleibt. Dass man teilt. Aufeinander achtet. Groß denkt. Sich global vernetzt. Die eigenen Ängste überwindet. Und nicht jede kleine Unsicherheit zum Staatsakt erklärt.

Meine Eltern lasen mir keine Märchen vor mit dem Beginn: „Es war einmal …“ Sie erzählten mir Träume mit dem Beginn: „Es wird einmal …“ Es ging nicht um Ängste oder Regeln, sondern um Visionen. Um Möglichkeiten, die größer waren als der Alltag. Um Wege, die noch niemand gegangen war. Um Mut, um Taten und um die Einstellung, dass ein Leben mehr sein kann als Sorge und Verwaltung. Dass es allen gut gehen kann. Leben heißt Widerstand, lautet ein kurdisches Sprichwort.

Foto: Marvin Ruppert
Burak Yılmaz

Pädagoge, Autor und Aktivist. Yılmaz beschäftigt sich intensiv mit Antisemitismus und setzt sich für eine inklusive Erinnerungskultur ein. Für sein gesell­schaftliches Engagement erhielt er mehrere Auszeichnungen, etwa den Julius-Hirsch-Preis und das Bundesverdienstkreuz. 2021 erschien sein Buch „Ehrensache – Kämpfen gegen Judenhass“ bei Rowohlt.

Also, ran an die ungeöffneten Briefe!

Burak Yılmaz

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