Gewaltvorwürfe beim Turnen: Stabiles Missbrauchssystem
Ex-Turnerin Tabea Alt und andere werfen dem deutschen Turnsport körperlichen und mentalen Missbrauch vor. Eine neue Kultur ist kein leichter Prozess.
T urntraining trotz Schmerzen und Knochenbrüchen, Essstörungen und andauernden Demütigungen? Die erstmals öffentlich gewordenen Vorwürfe der ehemaligen deutschen Turnerin Tabea Alt aus Stuttgart kommen Ihnen irgendwie vertraut vor? Kein Wunder, mehr oder minder identische Beschreibungen wurden bereits vor vier Jahren am Bundesstützpunkt in Chemnitz von deutschen Turnerinnen formuliert. Und genau dies beschreibt das Problem. Es hat sich anscheinend vielerorts nichts verändert.
Der Deutsche Turner-Bund gelobte damals zwar einen grundlegenden Kulturwandel. Hoffnungsvoll stimmte, dass der DTB nicht die beliebte Geschichte vom Einzelfall auftischte, obwohl sich die Vorwürfe in Chemnitz auf die Trainerin Gabriele Frehse konzentrierten.
Die Erzählung von Tabea Alt ist zwar ebenfalls nicht frisch, weil sie dem DTB schon vor drei Jahren vom systematischen Missbrauch in Stuttgart berichtete, als ihr ramponierter Körper das Karriereende einforderte. Weil der DTB diese im Vergleich zur Causa Frehse nun viel struktureller angelegte Kritik, die sich nicht nur auf den Standort Stuttgart beschränkte, offenbar jahrelang ignorierte, muss dem Verband Scheinheiligkeit attestiert werden.
Viele Hinweise auf missbräuchliche Praktiken
Im Zuge der Aufarbeitung der Chemnitzer Vorfälle gab es schon von anderen Turnerinnen und Turnern Hinweise auf missbräuchliche Praktiken an anderen Trainingsstützpunkten. Der DTB sah aber nach eigenen Untersuchungen davon ab, Trainer zu sanktionieren. Man habe aus den Ergebnissen, hieß es damals ominös, „interne Maßnahmen“ abgeleitet. Derartige Neigungen zu intransparenten, internen Lösungen sind schon mal typisch für stabile Missbrauchssysteme.
Es ist gewiss kein leichtes Unterfangen für den Verband, eine neue, liberale Kultur des Leistungssports mit einer Großzahl von Trainerinnen und Trainern voranzutreiben, die jahrzehntelang ein autoritäres System getragen haben. Bundestrainer Gerben Wiersma hat bei seinem Amtsantritt behauptet, Spitzenturnen mit Spaß sei möglich. Diese Idee muss endlich konkret mit Leben gefüllt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert