Gewalteskalation in Ecuador: Ein Land am Abgrund
In Ecuador explodiert die Gewalt. Präsident Noboa setzt auf das Militär, um den Bandenterror zu bekämpfen. Doch das könnte schiefgehen.
Ein bärtiger Mann mit breitkrempigem Hut streichelt versonnen einen Kampfhahn und begrüßt im Gefängnishof seine Kumpane. Eine Mariachi-Band singt im Videoclip „El Corrido del León“ ein Loblied auf ihn: „Er ist der Chef und der Patron“. Seine Tochter himmelt ihn auf einem Pferd sitzend an, blickt in die Ferne und singt: „In deinen Adern fließt gutes Blut“.
José Adolfo Macías Villamar, genannt Fito, ist der Chef der Choneros, der größten Drogenbande Ecuadors. Er sitzt wegen Raubüberfalls, Drogenhandels und Mord 34 Jahre ab.
Der Narcocorrido Clip, veröffentlicht im September 2023, war eine Art Werbung für die Choneros, mit knapp 20.000 Mitgliedern die größte von fast zwei Dutzend kriminellen Banden, die vor allem die Küste Ecuadors seit ein paar Jahren mit einem engmaschigen Netz aus Raub, Erpressung, Drogenverkauf und Mord überziehen.
Der Clip war im letzten Herbst aber vor allem eine Kampfansage des mächtigen Mafiabosses an die Regierung: Ich tue im Knast, was ich will. Auch Filme drehen. Dass die Chefs der Drogenbanden ihre blendenden laufenden Geschäfte aus den Gefängnissen steuern, ist allgemein bekannt.
Fito ist eine Schlüsselfigur in der spektakulären Gewalteskalation, die das Land seit zwei Wochen erschüttert. Die Banden haben mit Autobomben, der Geiselnahme von 200 Gefängniswärtern und Polizisten, der Erstürmung eines TV-Studios und Schießereien auf offener Straße in der Hafenstadt Guayaquil bürgerkriegsähnliche Zustände hergestellt. Das Ziel: Zeigen, dass sie das Sagen haben.
Präsident Noboa hat den Banden den Krieg erklärt
Ein Grund dafür war die geplante Verlegung von Fito in das Hochsicherheitsgefängnis La Roca, in dem es schwieriger wäre, Werbeclips zu drehen. Doch die Soldaten, die den Mafioso nach La Roca bringen sollten, fanden Anfang Januar im Knast in Guayaquil nur eine leere Zelle vor.
Jetzt gibt es viele offene Fragen: Wann hat Fito das Gefängnis verlassen? Gerüchten zufolge schon Weihnachten. Warum hielt niemand es für nötig, der Regierung mitzuteilen, dass der Staatsfeind Nummer eins geflohen war? Woher wusste der Drogenboss, was ihm drohte? Laut „New York Times“ kam der Tipp aus der Regierung von Präsident Noboa – ein Hinweis, dass die Frontverläufe bei diesem blutigen Kampf komplizierter sind als „Staat gegen Mafia“.
Der junge Präsident Daniel Noboa, Sohn einer der reichsten Familien des Landes und erst ein paar Monate im Amt, hat den Banden den Krieg erklärt. Nicht metaphorisch, sondern real. Die 22 Banden, die an die 50.000 Mitglieder haben, werden nun vom Militär bekämpft, das über 35.000 Soldaten verfügt. Für Bandenmitglieder gilt nicht mehr ecuadorianisches Recht, sie werden wie Gegner in einem Bürgerkrieg behandelt. Nach den Geiselnahmen, Gewaltausbrüchen und Fitos Flucht gab es fast 2000 Verhaftungen.
Ecuador war lange ein recht stabiles Land ohne ausgeprägte Gewaltkultur. Wohl noch nie hat sich ein leidlich intaktes Gemeinwesen so schnell (jedenfalls in manchen Küstenregionen) in einen failed state verwandelt. In manchen Orten, wie der Großstadt Durán, haben die kriminellen Banden die Herrschaft übernommen. Die Polizei ist verschwunden. Schulunterricht gibt es in Durán nur noch online. Der Bürgermeister regiert aus dem Untergrund.
2016 lag die Mordrate in Ecuador ungefähr auf dem Niveau der EU. Heute ist sie fast zehnmal so hoch, doppelt so hoch wie in Mexiko. Auch jenseits der kriminellen Hotspots an der Küste müssen manche Schulen, Unternehmer und Cafés Schutzgeld an Banden bezahlen. Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr in Schule – aus der begründeten Furcht, dass sie auf dem Schulhof von Narcos angeworben werden. Vor fünf Jahren war all das noch kaum vorstellbar.
Der ecuadorianische Staat wurde kaputtgespart
Warum diese Gewaltexplosion? Warum jetzt? Es gibt drei Gründe, die alle in die gleiche Richtung wirken. Nur alle zusammen erklären Wucht und Tempo dieses Verfallsprozesses. Eine tektonische Veränderung im globalen Drogenbusiness. Ein absurder, neoliberaler Rückzug des Staates. Und die Spätfolgen von Corona und Lockdowns.
Die ökonomische Lage nach der Pandemie ist übel. Das Pro-Kopf-Einkommen ist niedriger als vor Corona. Nur ein Drittel der BürgerInnen hat einen regulären Job – vor 2020 waren es noch 40 Prozent. Laut Präsident Noboa haben zwei Millionen junge Ecuadorianer keinen Job – sie sind das Reservoir für die Narco-Gangs.
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Zweitens: Der ohnehin fragile Staat ist in den letzten sechs, sieben Jahren mit einem radikalen Sparkurs ruiniert worden. Ein geradezu bizarres Zerstörungswerk geht auf das Konto von Guillermo Lasso, der 2023 wegen Korruptionsvorwürfen als Präsident zurücktreten musste. Polizisten bekamen monatelang kein Gehalt. Das Justizministerium wurde bereits 2018 abgeschafft. Mehr Geld für die Gefängnisse, in denen hunderte von Morden geschahen und die teilweise von Banden regiert wurden? Fehlanzeige. Ende 2023 war – mitten in einer beispiellosen Welle krimineller Gewalt – erst ein knappes Drittel des ohnehin gekürzten Etats für Sicherheit ausgegeben.
Last but not least ist Ecuador in den letzten Jahren zu einem zentralen Schauplatz von Drogenexporten geworden. Die Cocapflanzen werden in Peru, Kolumbien und Bolivien angebaut, teilweise in Ecuador verarbeitet und über Guayaquil, mittlerweile einer der wichtigsten Kokain-Exporthäfen der Welt, verschifft – vor allem über Antwerpen und Hamburg nach Europa. Die ecuadorianischen Banden organisieren den Transport.
Die Choneros sind eine Art Subunternehmen des global agierenden mexikanischen Sinaloa-Kartells, andere Gruppen arbeiten mit der italienischen Ndrangheta, der albanischen Mafia oder anderen mexikanischen Kartellen zusammen. Der Umsatz der heimischen Mafia ist übersichtlich: 120 Millionen Dollar im Jahr. Das große Business, mehr als drei Milliarden Dollar, ist die Geldwäsche. Ecuador ist dafür attraktiv, weil der Dollar die Landeswährung ist. Die großen Kartelle sind längst Teil der legalen Wirtschaft in Ecuador geworden.
Mit Militär gegen Banden – Geht das gut?
Die aktuelle extreme Brutalität spiegelt, so der ecuadorianische Experte für Drogengewalt Fernando Carrión, Umbrüche im globalen Drogenhandel wider. Lokale Handlanger wie die Choneros „werden nicht mehr mit Dollar bezahlt, sondern mit Kokain“. Deshalb erschließen sie lokale Märkte für Kokain. Dafür müssen sie sich besser organisieren und wachsen. Das führt zu Rivalitäten mit anderen Gangs, Schießereien, Exekutionen – und erklärt den sprunghaften Anstieg der Mordrate.
Ein abwesender Staat, brutale Mafia-Revierkämpfe, eine depressive wirtschaftliche Lage – wen wundert, dass das eine toxische Mixtur ergibt?
Das Militär zu mobilisieren war vielleicht die einzige Möglichkeit wieder so etwas wie staatliche Autorität herzustellen. Die Opposition applaudierte dem 36-jährigen Noboa. Passanten jubelten, als Soldaten Jugend-Gangs verhafteten. Das Militär ist in der Tat weniger verfilzt mit den Drogenbanden als die Polizei. Spricht also nicht alles dafür, das Militär strategisch gegen Narco-Banden einzusetzen?
Genau das wurde in Mexiko vor 15 Jahren mit Unterstützung der USA getan – mit grauenhaften Folgen. Die Militarisierung des Kampfs gegen die Narcos bedeutete: Aufrüstung auf beiden Seiten. In Mexico setzten die finanzstarken Kartelle Landminen ein und bauten sogar Panzer. Die Zahl der zivilen Toten in diesem „Krieg gegen die Drogen“ schnellte sprunghaft nach oben. Seit 2006 sind weit mehr als 300.000 Menschen in diesem Konflikt gestorben. Die Geschäft der Kartelle florieren noch immer.
Der Terror geht weiter
Außerdem ist die Vorstellung, dass die Militärs Recht und Ordnung gegen die böse Mafia wiederherstellen, etwas schlicht. Einer der Erfinder des „Kriegs gegen die Drogen“, der frühere mexikanische Sicherheitsminister Genaro García Luna, wurde 2023 in den USA verurteilt. Er hatte auf der Gehaltsliste des Sinaloa-Kartells Million Dollar kassiert und hingebungsvoll die Konkurrenz des Kartells bekämpft.
Gegen die wuchernde organisierte Gewalt hilft keine Militarisierung, sondern eine Kombination von intakter Polizei, harten Urteilen, Gemeinsinn und einem starken (Sozial-)Staat. Mit dem Staatsvertrauen steht es allerdings nicht zum Besten. Noboa hat als Präsident als erstes ein Gesetz im Parlament eingereicht, das 90 Millionen Dollar Steuerschulden seines Familienclans wundersamerweise in Luft auflöst hätte. Die Opposition stoppte den Versuch im letzten Moment. Wenn der Präsident den Staat als Selbstbedienungsladen nutzt – warum sollen die Bürger dem Staat dann trauen?
Und nun? Immerhin haben die Choneros, Los Lobos und die anderen Gangs bislang nicht wie befürchtet mit Autobomben und noch mehr Terror auf Noboas Militärkurs geantwortet. Das aber, so Kriminalitätsexperte Fernando Carrión, sei „kein Waffenstillstand, sondern nur eine Pause“. Am Mittwoch wurde der Staatsanwalt, der den Überfall auf den TV-Sender bearbeitete, in Guayaquil in seinem Auto hingerichtet. Der Terror geht weiter.
Karin Gabbert ist Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Quito.
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