Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen: „Griff an die Genitalien“
Frauen mit Behinderung werden häufiger Opfer von sexueller Gewalt. Der Frauennotruf Hannover versucht das mit einem Präventionsprojekt zu verhindern.
taz: Frau Chodzinski, sind Wohnheime gefährlich für Menschen mit Behinderung?
Claudia Chodzinski: Ja. Unsere Erfahrung ist, dass Menschen in Wohnheimen häufig nicht sicher sind. Es gibt dort unterschiedliche Formen von Grenzverletzungen und Gewalt, physische und emotionale.
Durch wen?
Zum Beispiel durch Mitbewohner oder das Personal. Es gibt Menschen, die sich ganz gezielt in bestimmten Arbeitsbereichen bewerben, weil sie dort potenzielle Opfer haben. Hinzu kommt aber auch strukturelle Gewalt. Menschen, die in Einrichtungen leben, unterliegen vielen äußeren, autoritären Regelwerken. Wann gibt es Essen, was ist mit meiner Intimsphäre? Oftmals haben sie kein Einzelzimmer. Wichtig ist auch strukturelle Gewalt in Form von Psychopharmaka.
Und sexuelle Gewalt?
Claudia Chodzinski 51, arbeitet als Sozialarbeiterin beim Frauennotruf Hannover.
Frauen mit Behinderung sind zwei bis drei Mal so stark von sexueller Gewalt betroffen wie der Bevölkerungsdurchschnitt. Behinderte Menschen sind häufig von anderen Menschen abhängig, zum Beispiel durch Pflegebeziehungen oder auch von den Eltern. Es gibt dadurch immer eine große Nähe und häufig auch Grenzverletzungen, die erst einmal gar nicht so bewusst wahrgenommen werden
Inwiefern?
Der Frauennotruf Hannover berät seit 15 Jahren Frauen mit Behinderung.
Im Oktober 2014 hat der Verein das Präventionsprojekt „Behindert sexuelle Gewalt“ gestartet. Hierbei geht es vor allem darum, etwas tun zu können, bevor Frauen Opfer von Gewalt werden.
Frauen mit Lernschwierigkeiten und in Einrichtungen wohnende haben ein erhöhtes Risiko, Gewalt zu erfahren.
Die Förderung durch die Aktion Mensch ist in diesem Jahr ausgelaufen. Doch die Stadt Hannover hat zugesagt, die Kosten von 48.500 Euro pro Jahr dauerhaft zu übernehmen.
Ziel des Projektes ist es, Netzwerke aufzubauen und Fachkräfte und Angehörige für das Thema sexuelle Gewalt zu sensibilisieren.
Etwa bei der Körperpflege. Für viele Menschen mit Behinderung ist es normal, dass man sie ohne Vorwarnung an die Genitalien fasst, weil sie das häufig gewöhnt sind, wenn sie pflegebedürftig sind. Oder aber sie sitzen auf der Toilette und die Tür ist auf. Der Umgang mit Intimsphäre ist sehr Laisser-faire.
Werden eher Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen zu Opfern?
Alle. Ganz besonders gefährdet sind seelisch behinderte und gehörlose Frauen.
Warum?
Seelisch behinderte Frauen haben keine Lobby. Wenn eine schizophrene Frau zu ihrem Arzt geht und sagt: „Ich wurde unsittlich berührt“, dann denkt der häufig, sie habe sich das eingebildet. Hinzu kommt, dass sich diese Frauen oft selbst in Gefahr bringen, weil sie den Kontakt suchen und erst spät merken, dass sie missachtet oder missbraucht werden. Das Bedürfnis nach Bindung hält die Frauen häufig in gewaltvollen Beziehungen. Das gilt auch für gehörlose Frauen. Hinzu kommt die Sprachbarriere. Sie müssen beschreiben können, was ihnen passiert ist.
Haben soziale Einrichtungen Kontrollmechanismen gegen sexuelle Übergriffe?
Im sozialen Bereich sind mittlerweile erweiterte Führungszeugnisse üblich. Darin stehen natürlich nur Sachen, für die jemand juristisch belangt wurde. Leider gibt es keine echten Kontrollmechanismen. Man kann die psychische Gesundheit von Menschen in sozialen Berufen nicht testen. Was es in der Behindertenhilfe häufiger gibt, sind interne Selbstverpflichtungen. Darin steht etwa, dass man sich an Nähe- und Distanzregelungen hält. Es wirkt auf potenzielle Täter abschreckend, wenn sie merken, die Einrichtung hat das Thema auf dem Schirm.
In diesem Bereich arbeiten vor allem Frauen. Sind die Täter eher weiblich oder männlich?
Gerade sexualisierte Gewalt geht mehr von Männern an Frauen aus. Aber natürlich gibt es auch Mittäterschaft von Frauen, wenn sie etwas wissen und nicht handeln.
Gibt es auch Frauen, die übergriffig werden?
Das gelangt noch weniger an die Öffentlichkeit, weil es für die Betroffenen noch beschämender ist. Grenzverletzende Berührungen kommen häufig vor.
Wird so wenig über das Thema gesprochen, weil immer noch der Glaube vorherrscht, Behinderte hätten keine Sexualität?
Ja, das sind dann diese üblichen Mythen von wegen: Die sind ja in Einrichtungen und da sind sie sicher. Oder auch: Die sind eh hässlich, die fasst keiner an. Es besteht aber auch schlicht kein Interesse.
Hatten Sie beim Frauennotruf Hannover einen Fall auf dem Tisch, als Sie das Präventionsprojekt „Behindert sexuelle Gewalt“ gestartet haben?
Wir beraten schon seit fast 15 Jahren Frauen mit Behinderung. Fälle gibt es zuhauf. Ich denke etwa an eine schwer geistig behinderte Frau, die mit ihrer Betreuerin kam. Die hatte festgestellt, dass sich die Frau nicht mehr waschen wollte.
Wie haben Sie reagiert?
Wir haben einfach zusammen mit Figuren gespielt. Die Frau war sprachlich sehr eingeschränkt. Sie hat immer ihre Figur im Sand eingebuddelt, wollte sich verstecken. Und sie hat eine männliche Puppe an ihrer Puppe gerieben. Da war klar, sie fühlte sich durch einen Mann bedroht. Die Details waren nicht wichtig. Durch dieses Nichtwaschen hat sie versucht, ihn sich vom Hals zu halten.
Müssen Sie nicht herauskriegen, was passiert ist, um weitere Übergriffe zu verhindern?
Das ist das Ziel, aber es geht nicht um die Details. Es geht nicht darum, hat er sie vergewaltigt, hat er sie angefasst …
Aber das Detail, wer es war, ist doch wichtig.
In dem Fall erst einmal nicht. Es ging erst einmal darum, wahrzunehmen, was da los ist. Andere Einrichtungen hätten gesagt: Die wäscht sich nicht? Dann wird sie eben mit Gewalt gewaschen. Punkt. Sie hatte zum Glück eine sensible Betreuerin, die mit ihr eine Beratungsstelle aufgesucht hat. Die hat dann herausgefunden, dass es ein Mitbewohner war.
Wie kommen Sie denn sonst mit den Betroffenen in Kontakt, wenn eben die Betreuer, die eigentlich vermitteln müssten, selbst oft die Täter sind?
Das ist das Dilemma. Wir haben einen Arbeitskreis aus Fachleuten, Betroffenen und pflegenden Angehörigen. Darüber sind wir sehr gut vernetzt. Wen wir aber nur schwer bekommen, sind Frauen, die im häuslichen Umfeld leben und etwa Grenzverletzungen durch ihre Eltern erfahren. Ich hatte einen Fall, in dem die Mitarbeiter in der Werkstatt, in der eine Frau gearbeitet hat, aufmerksam geworden sind. Der Täter war der Vater.
Und was machen Sie dann?
Die Frau hätte niemals gegen ihn ausgesagt. Wir müssen das aushalten. Die Frau wird an ihrer Lebenssituation nichts verändern. Sie will im häuslichen Umfeld weiterleben und sie erduldet das. Wir können nicht über ihren Kopf hinweg entscheiden. Wenn die Frau sagt, dass sie keinen Betreuerwechsel will, ist das so. Auch eine Form von Selbstbestimmung.
Wie können sich die Frauen selbst gegen Gewalt schützen?
Das wichtigste ist, dass sie informiert sind. Dazu gehört auch eine ordentliche Sexualaufklärung. Fortschrittliche Einrichtungen haben einen Aufklärungskoffer oder es kommt jemand von Pro Familia. Wir bieten vom Frauennotruf aber auch Selbstbehauptungstraining an. Unsere Wen-Do-Trainerin kann Gebärden. Da geht es auch darum, wie stelle ich mich hin, wie ist meine Körpersprache.
Das holt die Frauen aus der Opferrolle?
Ja, aber nur bedingt. Nicht jede Frau kann das. Wenn eine Frau nicht nur kognitiv beeinträchtigt ist, sondern auch noch im Rollstuhl sitzt, ist es für sie einfach schwierig, sich zu wehren. Ich habe auch eine blinde Frau in der Beratung, die nicht mit einem Blindenstock vor die Tür geht, weil sie darüber als Opfer zu identifizieren ist. Die quält sich durch die Welt. So geht es vielen Frauen. Die versuchen zu verstecken, dass sie behindert sind, weil es sie zu leichteren Opfern macht.