: „Gewalt gegen Frauen ist kein importiertes Problem“
Vor zehn Jahren schockierte die Kölner Silvesternacht das Land. Frauenrechte seien daraufhin rassistisch instrumentalisiert worden, kritisiert Juristin Dilken Çelebi – bis hin zur Reform des Sexualstrafrechts
Interview Patricia Hecht
taz: Frau Çelebi, Anfang Januar 2016 berichteten erste Medien in Köln über Frauen, die in der Silvesternacht rund um den Hauptbahnhof begrapscht worden waren. Was war passiert?
Dilken Çelebi: In der Silvesternacht war es in Köln, aber auch in anderen Städten wie Hamburg in großen Menschenmengen zu Übergriffen gekommen. Darunter waren Diebstähle von Handys, Sachbeschädigungen und Böller, die in die Menge geschossen wurden. Vor allem aber gab es Hunderte sexualisierte Übergriffe, die für die Betroffenen teils traumatisch waren.
taz: Allein in Köln wurden mehr als 1.200 Strafanzeigen erstattet, davon mehr als 500 wegen sexueller Übergriffe, auch Vergewaltigungen. 355 Beschuldigte wurden später ermittelt, 33 Männer verurteilt. Muss man die Ereignisse als Exzess beschreiben?
Çelebi: Es war wohl einmalig, was da passierte, ein Schock, eine Eskalation. Allerdings nahm die Debatte schnell eine bestimmte Richtung. Es hieß, die Täter seien alles migrantische Nordafrikaner – „Nafris“, wie die Polizei schrieb.
taz: War das nicht so?
Çelebi: Viele Beschuldigte waren algerische und marokkanische Staatsbürger. Was aber kaum diskutiert wurde sind sozialstrukturelle Ursachen der Ereignisse. Viele Verdächtige durften nicht arbeiten, hatten wenig Geld, teils keinen Aufenthaltsstatus. Teils lebten sie seit Jahren in engen Unterkünften, nun kam Alkohol dazu, letzteres durchaus vergleichbar mit dem Oktoberfest. Dass Delikte mit der Staatsangehörigkeit von Täter*innen zusammenhängen, dafür gibt es in der Kriminologie keine empirischen Befunde – sondern es sind solche Faktoren, die betrachtet werden müssen. Zudem war die Polizei völlig überfordert.
taz: Warum?
Çelebi: Die Orte waren schlecht ausgeleuchtet, die Polizeipräsenz niedrig. In Köln patrouillierte das Ordnungsamt überhaupt nur bis 14 Uhr. Aber in der Debatte spielte das fast keine Rolle. Im Fahrwasser der sogenannten Flüchtlingswelle …
taz: … 2015 war die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland innerhalb weniger Monate deutlich gestiegen, vor allem aus Syrien, Afghanistan und Irak...
Çelebi: … ging es eben vor allem um die Ethnizität der Verdächtigen. Gesellschaftlich hatte bereits ein Prozess der Abgrenzung begonnen: Wenn die hierherkommen, müssen sie erst mal unsere Normen akzeptieren. Diese Rhetorik fiel nun auf fruchtbaren Boden: Unter dem Deckmantel von Sexismuskritik waren breite Teile der Gesellschaft bereit, rassistische Diskurse anzunehmen oder voranzutreiben.
taz: #metoo kam fast zwei Jahre nach Köln. Wie wurden Sexismus und sexualisierte Übergriffe damals diskutiert?
Çelebi: Wiederum zwei Jahre vor Köln, also Anfang 2013, gab es den #aufschrei. Feministinnen twitterten über Alltagssexismus in der Öffentlichkeit. Allerdings wurden derlei Erfahrungen von Frauen noch oft belächelt und herabgewürdigt. Auf einmal jedoch konnte mit Köln ein „Othering“ stattfinden: Weiße Täter standen nicht im Fokus. Die Kritik an patriarchalen Rollenbildern, an Besitzansprüchen an Frauen konnte ausgelagert werden. Sicher: Für sich genommen war, was da passiert ist, singulär. Trotzdem wurden Frauenrechte instrumentalisiert und rassistisch vereinnahmt.
taz: Welche Rolle spielten die Medien?
Çelebi: Eine große. Die Bild-Zeitung schrieb vom „Sex-Mob“, der Focus brachte ein Cover mit einer weißen Frau, auf der schwarze Handabdrücke prangten – einer nackten weißen Frau wohlgemerkt. Es gab dort offensichtlich keinerlei Verständnis, was Sexismus ist.
taz: Mit einem weiteren Hashtag, #ausnahmslos, forderten Feministinnen bald eine Debatte über sexualisierte Gewalt als gesamtgesellschaftliches Phänomen, zudem eine Reform des Sexualstrafrechts.
Çelebi: Die feministische Zivilgesellschaft wollte das seit Langem, das Strafrecht war nicht mehr zeitgemäß. Sexuelle Belästigung war noch kein Straftatbestand. Sexualisierte Übergriffe waren nur dann strafbar, wenn Gewalt, eine Gefahr für Leib und Leben im Spiel waren oder eine sogenannte schutzlose Lage ausgenutzt wurde, zum Beispiel die Haustür verschlossen war. Es gab deshalb enorm viele Fälle, die strafrechtlich gar nicht erfasst wurden.
taz: Welche?
Çelebi: Überraschungsangriffe etwa, Fälle, in denen sich über den Willen der Betroffenen hinweggesetzt wurde oder sogenannte Klima-der-Gewalt-Fälle. Da hatten Betroffene schon so viel häusliche Gewalt erlitten, dass sie resignierten und der Täter weder drohen noch Gewalt anwenden musste.
taz: In den Jahren vor Köln hatte sich dennoch einiges getan: 2011 unterzeichnete Deutschland die Istanbul-Konvention des Europarats gegen Gewalt gegen Frauen. Welche Bedeutung hatte die?
Çelebi: Um die Konvention zu ratifizieren, musste das Sexualstrafrecht geändert werden. Das war zuletzt 1997 reformiert worden, als Vergewaltigung in der Ehe endlich strafbar wurde. Trotzdem war das Recht weiter nötigungs- und nicht einverständnisbasiert: Zwar war die körperliche Gewaltanwendung strafbar – aber es ging nicht darum, dass sexuelle Handlungen zwischen zwei Personen nur einvernehmlich stattfinden dürfen. Diesen gedanklichen Wechsel verlangte aber die Istanbul-Konvention. Entsprechend forderten Verbände, dass „Nein heißt Nein“ gelten muss. Im Februar 2015, also fast ein Jahr vor Köln, hatte der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) eine Reformkommission eingesetzt, die Vorschläge erarbeiten sollte.
taz: Und dann kam Köln.
Çelebi: Plötzlich ging es Schlag auf Schlag. Feministische Verbände sahen sich in der Bredouille: Legitime Forderungen, die sie seit Langem hatten, wurden rassistisch vereinnahmt. Weiter für sie zu plädieren, sich aber gleichzeitig vom Rassismus abzugrenzen, war nicht einfach.
taz: War der Preis für die Reform des Sexualstrafrechts 2016, dass sie rassistisch motiviert war?
Çelebi: Das Verfahren wurde durch Köln enorm beschleunigt. Trotzdem: „Nein heißt Nein“ war ein Paradigmenwechsel, der sich schlagwortartig in den Köpfen verfestigte. Aufgrund der Eile hat das Gesetz aber Defizite.
taz: Welche Lücken sehen Sie?
Çelebi: Das Gesetz erfasst keine Fälle von passivem Verhalten der Betroffenen. Die Rechtspraxis wiederum erfasst oft nur unzureichend Fälle von Schockstarre oder als ambivalent markiertes Verhalten – wenn eine Person zum Beispiel erst sexuelle Handlungen mitmacht, dann aber nicht mehr möchte. Da kommen Vergewaltigungsmythen und geschlechterbezogene Stereotype zum Tragen: Dass es für Frauen üblich sei, sich passiv zu verhalten, weil sie erobert werden wollen, und dass ein Nein deshalb nicht erkennbar war. Es herrscht immer noch die Annahme der mehrheitlichen „Fremd“-Vergewaltigung, also der, dass die „richtige“ Vergewaltigung im Dunkeln von einem unbekannten Täter erfolgt.
taz: Womit sich der Kreis zu Köln schließt.
Çelebi: Je mehr eine Vergewaltigung von diesem Mythos abweicht, desto mehr kommt es zu Freisprüchen. Generell problematisch finde ich aber vor allem, dass die Grundprämisse des Sexualstrafrechts immer noch ist, dass unwidersprochene sexuelle Handlungen eigentlich willkommen sind – und es der betroffenen Person obliegt, ihr Nein kundzutun. Das ist mit dem menschenrechtlichen Verständnis der sexuellen Selbstbestimmung nicht vereinbar: Es gibt ja kein Anrecht auf sexuelle Handlungen.
taz: Was fordern Sie?
Çelebi: Die grundsätzliche Annahme muss sein: Nur einverständliche sexuelle Handlungen sind willkommen. Passivität ist kein Einverständnis. Wir fordern also „Ja heißt Ja“.
taz: Hieße das eine erhöhte Verurteilungsquote? Die lag etwa in Berlin 2023 bei drei Prozent der angezeigten Fälle.
Çelebi: Beweisschwierigkeiten bleiben bei „Ja heißt Ja“ bestehen. Aber etwa Passivität gäbe es als Kriterium nicht mehr – es wäre die Pflicht des Gegenübers, sich des Einverständnisses zu vergewissern. Auf jeden Fall muss eine solche Änderung des Strafrechts kommunikativ gut begleitet werden.
taz: Was heißt das?
Çelebi: Es braucht ein gesellschaftliches Wissen darüber, was konsensuale sexuelle Handlungen eigentlich sind. Polizei, Justiz und Staatsanwaltschaft müssen verpflichtend fortgebildet werden, Befragungstechniken dürfen die Betroffenen nicht erneut traumatisieren.
taz: Laut Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung ist derzeit keine grundlegende Reform des Sexualstrafrechts geplant. Nur bei Gruppenvergewaltigungen soll der Strafrahmen erhöht werden.
Çelebi: Ich sehe auch hier klare Kontinuitäten zu Köln. Das Zustrombegrenzungsgesetz hat Merz auch damit begründet, die „alltäglich stattfindenden Gruppenvergewaltigungen aus dem Asylbewerbermilieu“ eindämmen zu wollen. Für die gibt es keine Belege. Merz bedient historisch etablierte Narrative des Fremden, der unsere modernen deutschen Frauen gefährdet.
taz: Auch die Stadtbilddebatte schlägt in diese Kerbe.
Çelebi: Was da ventiliert wird, hat nichts mit dem tatsächlichen Schutz von Frauen gegen geschlechtsbezogene Gewalt zu tun. Wir stehen als feministische Zivilgesellschaft immer noch und schon wieder vor der Herausforderung, wichtige Forderungen wie „Ja heißt Ja“ zu stellen und gleichzeitig zu entlarven, welche Forderungen populistisch und rassistisch sind. Gewalt gegen Frauen ist kein importiertes Problem. Wir müssen den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung verbessern – unabhängig von der Herkunft von Betroffenen und Tätern.
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