Gewalt durch U-Bahn-Kontrolleure: „Wir hoffen auf Antworten“
Schulterbruch bei einer Ticketkontrolle – nur ein Einzelfall? Eine Petition prangert Diskriminierung und Gewalt durch Kontrolleure in Berlin an.
taz: Frau Helmy, Frau Malonda, Sie haben die Petition „Stoppt Diskriminierung und Gewalt durch Kontrolleure – #BVGWeilWirUnsFürchten“ gestartet. Stand Montag: mehr als 30.000 Unterschriften. Im Text stellen Sie zwei krasse Fälle vor, etwa den eines Mannes, der im Dezember wegen einer fehlenden Fahrradfahrkarte und trotz Kooperationsbereitschaft von Kontrolleuren krankenhausreif geschlagen wurde. Ein Ausnahmefall oder eben nicht?
Anna-Rebekka Helmy: Abbéys Fall hat uns alle erschüttert. Er wurde mitten am Tag von drei Fahrscheinprüfern am U-Bahnhof Weberwiese auf den Treppen am Bahnsteig mit roher Gewalt überzogen. Ein Schulterbruch, ein gebrochenes Schlüsselbein, zwei angebrochene Rippen, eine gequetschte Lunge. Das war am 16. Dezember. Am Tag seiner Operation, die sechs Stunden dauerte, brachte seine Frau in einem anderen Berliner Krankenhaus die gemeinsame Tochter zur Welt. Für die gesamte Familie ist der Übergriff eine traumatisierende Erfahrung. Mit Blick auf das Ausmaß der Gewalt ist das sicher ein Extrem, körperliche Übergriffe sind leider dennoch keine Einzelfälle.
Achan Malonda: Wenn man sich länger mit dem Thema beschäftigt, kommt man zwangsläufig zu dem Schluss, dass wir es in der Tat mit strukturellem Machtmissbrauch zu tun haben, der in die Kultur und Praxis der für die BVG tätigen Fremdfirmen eingeschrieben zu sein scheint. Das geht mit einem anzüglichen „Telefonnummer her, sonst Strafe zahlen“ los, über die Demütigung von Menschen aufgrund von Phänotyp, Heteronormativität, Alter, Mobilität und sozialer Klasse, bis hin zu physischer Gewalt wie in Abbéys Fall. Ich wurde selbst schon zweimal Zeugin von solchen Vorfällen, und uns haben seit Beginn der Petition viele ähnliche Zuschriften erreicht – auch von Menschen, die Diskriminierung und Gewalt am eigenen Leib erfahren haben. Die Antidiskriminierungsstellen öffentlicher und freier Träger sind mit dem Problem vertraut.
Wie geht es Abbéy jetzt?
ARH: Die Brüche sind nach der Operation und dank seiner Disziplin inzwischen verheilt, das hat Abbéys behandelnder Physiotherapeut persönlich auf der Petitionsseite geschrieben. Doch bis heute kann er den rechten Arm nicht über Schulterhöhe bringen. Wir hatten vor einigen Tagen einen Videocall, er ist unglaublich positiv drauf und hat so viele Pläne – auch mit Blick auf die Petition und den Austausch mit von Gewalt durch Sicherheitskräfte betroffenen Menschen. Er baut dazu gerade an einer Website. Als Gastdozent des School of the Art Institute of Chicago ist er mit seiner Frau erst vor einem Jahr nach Berlin gekommen, auch in Chicago interessiert man sich für diesen Fall.
Sie beziehen sich auf rassistische Diskriminierung, auf Diskriminierung auf Basis des Alters, des sozialen Standes und des Geschlechts, Anzüglichkeiten, Erniedrigungen. Sie schreiben aber auch, dass nur wenige Fälle überhaupt an die Öffentlichkeit gelangen. Ist es dann nicht schwierig zu beurteilen, ob diese Gewalt wirklich System hat?
Achan Malonda
AM: Mit Blick auf Hürden, die einem begegnen, wenn man so einen Vorfall melden möchte, würde ich eher davon ausgehen, dass die Dunkelziffer viel höher ist. Zumal so etwas ja oft auch mit Scham verbunden ist und Überwindung kostet. Gerade Menschen aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen sind oft auf den ÖPNV angewiesen, obwohl für sie Sicherheit in öffentlichen Räumen nicht selbstverständlich ist. Hinzu kommt, dass die physische oder psychische Gewalt hier ausgerechnet von Personen ausgeübt wird, die eigentlich für Ordnung und Sicherheit in diesen Räumen sorgen sollen. Wenn die zuständige Beschwerdestelle der BVG einem dann mitteilt, dass sie nach Prüfung des Vorfalls zu dem Schluss kommt, der Sachverhalt stelle sich anders dar oder das beauftragte Personal habe sich gar richtig verhalten, ist das für bestimmt 90 Prozent der Menschen Anlass genug, aufzugeben. Das ist ja im Prinzip einfach nur Gaslighting (psychologischer Begriff für Form von psychischer Gewalt bzw. Missbrauch – Anm. d. Red.): einer von Diskriminierung betroffenen Person in einem offiziellen Schreiben zu spiegeln, sie sei unglaubwürdig.
Anna-Rebekka Helmy ist Journalistin. Achan Malonda ist Sängerin, Moderatorin und Aktivistin. Beide sind Teil von Black Womxn Matter Deutschland, einem Netzwerk von Schwarzen Frauen und nicht-binären Menschen.
ARH: Im Fall von Khadija, den wir auch in der Petition beschrieben haben, hat sie mehrfach gebeten, im Umfeld der Bushaltestelle auf Toilette gehen zu dürfen. Das wurde verweigert, und sie war gezwungen, ihre Notdurft im Beisein der Kontrolleur:innen zwischen zwei parkenden Pkws zu verrichten. Hier lautete die Antwort: „Noch bevor das Kontrollpersonal darauf reagieren konnte, hockten Sie sich hin und urinierten.“ Die Demütigung hat Khadija sehr erschüttert, diese Umdeutung auch. Sie hatte ihr Tagesticket nicht gestempelt, war aber immer bereit, ein Bußgeld zu zahlen, und hat das auch getan. Sie hat den Fall polizeilich gemeldet und bei der LADG-Ombudsstelle eingereicht. All diese Schritte können Betroffene ziemlich einschüchtern. Bei Beschwerden an die BVG kommen manchmal gar keine Rückmeldungen. Daher fordern wir auch mehr Transparenz im Beschwerdeverfahren und eine umfassende Dokumentations- und Auskunftspflicht. Unglaublich, dass das bei einem landeseigenen Betrieb nicht selbstverständlich ist.
Hat das Problem in jüngster Zeit zugenommen? Und gibt es möglicherweise bestimmte Security-Firmen, von deren Mitarbeitern besonders viel Gewalt ausgeht?
AM: Die Kontrollen haben im zweiten Lockdown bekanntermaßen zugenommen. Dass mit der Grundstimmung und Frustration im Rahmen der Pandemie auch die Aggression im Kontrollverhalten oder Sicherheitsgebaren des Personals gestiegen sein könnte, die ja nun auch neue Maßnahmen umsetzen müssen, halte ich zumindest für nicht unwahrscheinlich. Aber dafür gibt es keine Statistiken. Fest steht, dass die für die BVG tätige Privatfirma Wisag schon oft wegen Gewalttätigkeiten und Betrug gegenüber Fahrgästen der S-Bahn Berlin im Gespräch war.
Was war für Sie der Anlass, die Petition zu starten?
AM: Ich beschäftige mich seit Juni 2020 mit der BVG und der Tatsache, dass das „Weil wir Dich lieben“-Image zwar öffentlich mit einem „Wir nehmen alle Beschwerden sehr ernst“-Gestus untermauert wird, aber meine konkrete Erfahrung, als ich den Kontakt gesucht habe, eine andere war. Als ich selbst mal Zeugin war, habe ich gefilmt und sofort Beschwerde eingereicht. Als Antwort bekam ich eine Gegenanschuldigung – ich hätte die Mitarbeiter beschimpft und bei der Arbeit behindert, was frei erfunden war.
Und dann?
AM: Ich bin weitere Schritte gegangen, um den Vorfall öffentlich zu machen. Durch Gespräche mit Journalist:innen, Vertreter:innen aus der Politik sowie KOP Berlin und dem Antidiskriminierungsnetzwerk des TBB wurde mir klar, dass es sich um ein weitläufiges Problem handelt, welches sich nicht auf die BVG beschränkt, aber ausgerechnet von dieser mit stoischer Ruhe geduldet wird. Als Anna eine Petition vorschlug, erschien mir das sofort sinnvoll, um öffentlich das anzugreifen, was der Firma am wichtigsten zu sein scheint: ihr Image.
ARH: Je intensiver wir uns mit der Thematik beschäftigt haben, desto mehr Erfahrungsberichte tauchten in unserem Blickfeld auf – nicht nur in Bezug auf die BVG. Die Frage ist: Was passiert nach der Gewalt? Nicht jeder weiß sich gleich zu helfen. Wir begleiten einen Fall bei einem anderen Verkehrsunternehmen, da hatte die alleinerziehende Betroffene noch nicht einmal die Kraft, eine Anzeige bei der Polizei zu stellen. Bilder ihrer Blutergüsse liegen uns vor. Es ist die Ohnmacht, die lähmt. Erst einmal ist man allein mit dem Erlebten.
AM: Die Petition ist für uns ein Grundstein, um Aufmerksamkeit fürs Thema zu schaffen. Die BVG war für uns naheliegend, aber solche Vorgänge sind Teil von Strukturen, die es in ganz Deutschland gibt. Diese Petition soll auch nicht bewirken, dass am Ende alle umsonst Bahn fahren, es geht uns schlicht darum, dass die Menschenwürde nicht von einem gestempelten Ticket abhängen sollte.
Sie fordern strukturelle Lösungen wie die Dokumentationspflicht für die BVG oder verpflichtende Awareness-Schulungen für Mitarbeiter. Glauben Sie wirklich, dass eine Schulung die eingeübte Praxis von Sicherheitsdiensten aufbrechen kann?
ARH: Sicher ist, dass der eine Seminartag zur „Interkulturellen Kompetenz-Schulung“, wie von der BVG fürs Personal etabliert, offenbar nicht genügt. Das strukturelle Problem zeigt sich wie folgt: Sicherheitspersonal arbeitet zum Niedriglohn. Sogenannte Fang- oder Bonusprämien schaffen Anreize, die den Druck erhöhen. Wenn der Wille bestünde, ließe sich das sofort ändern. Mit Qualifizierungsmaßnahmen allein ist es sicher nicht getan.
AM: Es kann nur der erste Schritt sein. Die Unternehmensstrukturen und die Anstellungsverfahren müssten sich langfristig ändern, damit es in Zukunft wirklich anders läuft. Im ersten Schritt braucht es eine Selbstverpflichtung der BVG – notfalls auch eine, die die Zusammenarbeit mit einigen Fremdfirmen beendet und wieder vermehrt auf die Ausbildung eigener Mitarbeiter setzt.
Haben Sie Unterstützung aus der Politik bekommen oder eine Reaktion seitens der BVG?
AM: Die BVG hat sich seit Petitionsstart einmal bei Twitter geäußert, man höre uns, nehme alle Beschwerden sehr ernst und so weiter. Mehr als dieses Lippenbekenntnis gab es bislang nicht. Wir werden bei unserem Anliegen vor allem von der grünen Abgeordneten June Tomiak unterstützt. Sie ist unser Kontakt im Abgeordnetenhaus und hat parallel zur Petition, die wir auch dort eingereicht haben, eine Anfrage an den Senat gestellt. In der Vergangenheit hatte sich das Unternehmen auf ähnliche Anfragen hin eher bedeckt gehalten und keine konkreten Zahlen preisgegeben. Jetzt hoffen wir endlich auf Antworten, auf die auch Konsequenzen folgen.
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