Gewalt bei Ende Gelände: Im Schwitzkasten der Werkschützer
Tausende protestieren im rheinischen Braunkohlerevier. Bei Besetzungen verletzten Einsatzkräfte der Polizei mehrere Kohlegegner:innen.
Seit Samstagmittag hatten die Aktivist*innen den alten Gasthof besetzt gehalten. An Polizeiketten und einer Reiterstaffel vorbei hatten sie das Camp bei Keyenberg verlassen, einen Wald und einen Bach durchquert und waren in den leerstehenden Gasthof gelangt.
Insgesamt 3.000 Kohlegegner*innen sind dem Aufruf von Ende Gelände in diesem Jahr ins Rheinland gefolgt, um fossile Infrastruktur zu blockieren und den sofortigen Kohlestopp zu fordern.
Im vergangenen Jahr waren 6.000 gekommen. Für die Klimagerechtigkeitsbewegung ist die Mobilisierung trotzdem ein Erfolg. Alle anderen Klimacamps und Massenaktionen zivilen Ungehorsams waren in diesem Jahr der Pandemie zum Opfer gefallen.
Größte Kohlegrube Europas
Keyenberg, Lützerath und vier benachbarte Dörfer werden wohl RWE zum Opfer fallen. Trotz des besiegelten Kohleausstiegs im Jahr 2038 will der Stromproduzent den Tagebau Garzweiler weiter ausbauen. Die größte Kohlegrube Europas hat in den letzten Jahrzehnten über ein Dutzend Dörfer verschlungen. Wer durch das Braunkohlerevier fährt, kommt durch Geisterdörfer muss Umleitungen fahren, weil Straßen nicht mehr existieren.
Mit der Besetzung des Gasthofs in Keyenberg will Ende Gelände die Aufmerksamkeit in diesem Jahr auf den Abriss der Dörfer legen. Die Kontakte zwischen Klimaaktivist*innen und Anwohner*innen sind eng. Im Juni haben sie gemeinsam eine Straße besetzt. Auf einem Tablett bringt Yvonne Kremers am Samstagnachmittag Kuchen zum besetzten Gasthof. Kremers wohnt seit 18 Jahren in Keyenberg und engagiert sich bei „Alle Dörfer bleiben“.
Sie trägt einen gelben Mantel – gelb ist die Farbe des Widerstands der Dörfer. Und den haben sie hier noch nicht aufgegeben. Vom „Hauptfeind“ möchte Kremers nicht sprechen, wenn es um RWE geht. Aber Strom von dem Energiekonzern beziehe hier niemand. „Wegziehen kommt für mich nicht infrage“, sagt Kremers, die eine Reitschule im Ort betreibt. „Aber dass RWE hier nach und nach alle Häuser und Geschäfte kauft, macht das Dorfleben sehr traurig.“
Die schmalen Straßen Keyenbergs spiegeln diesen Eindruck. In den Fenstern der Backsteinhäuser sind die Rollläden halb oder ganz runter gelassen, viele Gebäude stehen leer. Auf manchen Fensterbrettern stehen Blumentöpfe mit gelben Stiefmütterchen oder Chrysanthemen. „RWE versucht gezielt, soziale Orte zu vernichten und die Dorfgemeinschaft zu spalten“, sagt die Ende-Gelände-Sprecherin Ronja Weil.
RWE hat Gasthof gekauft
Ende 2019 hat RWE den Gasthof gekauft, den Ausschank eingestellt und den Keyenberger*innen ihre letzte Kneipe genommen. „Dieser Ort steht symbolisch dafür, wie hier das ganze Leben zerstört werden soll“, sagt Weil. Deshalb habe man ihn heute wiederbelebt.
Hausbesetzungen sind eine neue Aktionsform im Repertoire der Klimaaktivist*innen. „Es war uns wichtig, die Eigentumsfrage zu stellen“, sagt Ende Gelände-Sprecherin Paula Eisner. „Auf der ganzen Welt werden Dörfern vernichtet, um die Profite der Konzerne zu sichern.“ Hieran, und an Keyenberg, Lützerath und den anderen Dörfern, werde die Ungerechtigkeit kapitalistischen Wirtschaftens sichtbar.
Um das Aktionswochenende trotz Corona stattfinden zu lassen, hat Ende Gelände einen enormen organisatorischen Aufwand betrieben. Statt eines großen Camps gab es 9 kleine, auch die 14 Demofinger waren entsprechend kleiner. Für die Polizei ist es einfacher, kleine Gruppen aufzuhalten.
Trotzdem schafften es am Samstag mehrere Finger in die Grube Garzweiler, das Kohlekraftwerk Weisweiler und das Gaskraftwerk Lausward. Bis zum späten Abend gelangten immer wieder Aktivist*innen auf Gleise, an die Abbruchkanten von Tagebauten und auf eine Gaspipeline.
Im Unterschied zu den teils nächtelangen Blockaden der vergangene Jahre räumte die Polizei die Aktivist*innen jedoch meist innerhalb weniger Stunden. In Garzweiler kam es für Aktivist*innen und Pressevertreter*innen zu einer gewaltvollen Begegnung mit 30 Security-Mitarbeitern des Energiekonzerns. Die Männer rannten auf die Eindringlinge zu, traten ihnen zwischen die Beine und brüllten „Kamera aus!“
Ein Werkschützer riss einen Journalisten zu Boden und nahm ihn in den Schwitzkasten. Einem anderen drohten sie, das Band seiner Kamera mit dem Messer durchzuschneiden. RWE-Sprecher Matthias Beigel sagt dazu: „Niemand hat das Recht, hier einzudringen, auch die Presse nicht.“ Es gehe um die Sicherheit – auch die der Presse. Inwiefern die Gewalt und das Hindern an der Berichterstattung zur Sicherheit der Presse beitragen solle, erklärte er nicht.
Auf Twitter dokumentierten Aktivist*innen und parlamentarische Beobachter*innen per Video Fälle von unverhältnismäßiger Polizeigewalt. Der „bunte Finger“, in dem körperlich eingeschränkte Menschen mitlaufen, wurde mit Polizeihunden ohne Maulkorb angegriffen. Der „grüne Finger“ wurde im Zug von Polizist*innen verprügelt – auf den Videos sieht man, wie Beamt*innen auf am Boden Liegende einschlagen.
Bei einem achtstündigen Polizeikessel erlitten zwei Journalist*innen Verletzungen. Vom Pferderücken aus hatten die Beamt*innen Pfefferspray auf die Demonstrierenden gesprüht. Ein Pferd scheute, der Fotograf und die Reporterin gerieten um ein Haar unter die Hufe. Die Reporterin wurde aber offenbar getroffen – sie kam mit einem doppelten Rippenbruch ins Krankenhaus.
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