: Gewalt auf Korsika nimmt zu
Die Politik des französischen Regierungschefs Jospin gilt als gescheitert. Mit jedem Anschlag wächst auf dem Festland die Zahl derer, die die Insel loswerden wollen
PARIS taz ■ Die an der Haustür eines marokkanischen Einwanderers in Bastia befestigte Gasbombe explodierte in der Nacht zu Sonntag. „Arabi fora“ – Araber raus – stand anschließend auf der Mauer. In Giannucio nahm die Lebensgefährtin des vor wenigen Tagen getöteten Nationalistenführers François Santoni mehrere anonyme Morddrohungen entgegen. In Ajaccio rettete sich ein Polizist mit einem beherzten Sprung aus seinem Wagen, nachdem er beim Anlassen einen unter dem Motor installierten Sprengsatz aktiviert hatte.
Ein gewöhnliches Wochenende auf Korsika. Die Mittelmeerinsel mit 250.000 EinwohnerInnen erlebt nicht nur mehr Erpressungen, mehr Sprengstoffattentate und mehr Morde als der Durchschnitt des französischen Territoriums. Sie ist auch das französische Gebiet mit den meisten rassistischen Angriffen. Das stellte die französische Menschenrechtskommission (CNCDH) schon im letzten Jahr fest. Nachdem in diesem Frühjahr nordafrikanische Studenten mit Knüppeln durch die historische Inselhauptstadt Corte gehetzt worden waren, gab erstmals auch ein lokales Blatt das lang verdrängte Phänomen zu.
Obwohl die französische Nationalversammlung im Frühsommer in erster Lesung einem von der rot-rosa-grünen Regierung vorgelegten Korsika-Gesetz zugestimmt hat, das die Konflikte entschärfen soll, schnellte im August die Gewaltkurve auf der Insel erneut in die Höhe. Unter anderem wurden mindestens drei Männer, die in dem Dickicht zwischen bewaffnetem Nationalismus, Geschäftemacherei und gewöhnlicher Kriminalität tätig waren, ermordet: Einer der einst mächtigsten Männer der Nationalisten auf der Insel, Santoni, sowie zwei auf Autoknackerei spezialisierte Cousins der Familie Marcelli, von denen mindestens einer auch zur Nationalistenszene gehörte.
„Gescheitert!“ Dieses Verdikt für die Korsika-Politik von Lionel Jospin ließ nicht lange auf sich warten. Sowohl konservative Oppositionspolitiker als auch linke Kritiker des Korsika-Gesetzes und der vorausgegangenen Verhandlungen zwischen Paris und den Repräsentanten des Inselparlaments sprachen es aus. Die Regierung habe auf Korsika „die Kontrolle verloren“. Nach einer Umfrage in der vergangenen Woche haben 57 Prozent der Franzosen kein Vertrauen mehr in die Korsika-Politik Jospins.
Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach der Sommerpause wird der Sozialdemokrat Jospin, der 1997 angetreten war, die Verhältnisse auf der Insel zu normalisieren, heute Abend im französischen Fernsehen seine Korsika-Politik rechtfertigen müssen. Vor allem den nach seinem Amtssitz benannten „Matignon-Prozess“. Jene Gespräche, bei denen erstmals eine französische Regierung offiziell mit Vertretern von bewaffneten korsischen Nationalisten an einem Tisch gesessen hat – ohne im Vorfeld den prinzipiellen Verzicht auf Gewalt zu verlangen.
Jospin wird auf einer Fortsetzung des „Matignon-Prozesses“ bestehen. Eine Alternative dazu gebe es nicht, sagen seine SprecherInnen bei jedem neuen Attentat. Aber acht Monate vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich, bei denen Jospin aller Voraussicht nach als Herausforderer antreten wird, ist schon jetzt klar, dass das Thema Korsika keineswegs „erledigt“ ist. Das Geschehen auf der Insel ist wieder zentrales Argument der nationalen Politik – von den Grünen bis zu den Konservativen.
Bloß auf der Insel selbst herrscht Schweigen. Weder die nationalistischen Honoratioren noch die SprecherInnen der konservativen Mehrheit im Inselparlament haben sich bislang – zwei Wochen danach – zu dem Mord an Santoni geäußert. Es bleiben ängstliche Spekulationen. Denn es ist ein offenes Geheimnis, dass Santoni, der sich zwar von dem bewaffneten Kampf seiner einstigen Gefährten distanziert hatte, 1999 eine neue bewaffnete Dissidentengruppe gegründet hatte: „Armata Corsa“, die über rund 50 Männer in Waffen verfügt und mehrfach tödlich zugeschlagen hat.
Angesichts von drohenden Racheakten ertönt hier und da auf der Insel, wo die bewaffneten Nationalisten immer nur eine kleine Minderheit waren, der an Paris gerichtete Appell: Lasst uns nicht mit diesen Nationalisten allein. 85 Prozent der KorsInnen wollen, dass Korsika Teil der französischen Nation bleibt. Auf dem „Kontinent“ ist das anders. Dort wächst die Zahl derjenigen, die Korsika loswerden wollen, mit jedem Schuss.
DOROTHEA HAHN
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