Gesine Schwan über Schulz, Merkel & Co.: „Es ist anders als 2013“
Von ihrer Partei fordert die SPD-Politikerin einen klaren linken Kurs. Gegen Sahra Wagenknecht hat sie keine innere Abwehr, der Kanzlerin konstatiert sie Müdigkeit.
taz: Frau Schwan, wird der neue SPD-Vorsitzende Martin Schulz jetzt eine andere, eigenständig sozialdemokratische Europapolitik machen, klar auf Distanz zu Bundeskanzlerin Angela Merkel?
Gesine Schwan: Martin Schulz ist biografisch enger mit Europa verbunden als Angela Merkel. Allerdings war seine Europapolitik inhaltlich lange darauf ausgerichtet, Merkel nicht ins Gehege zu kommen. Das muss man sagen. Aber jetzt ist die Situation ganz anders. Wenn Schulz Kanzler werden will, muss er ihr massiv ins Gehege kommen. Das wird ihm sicher kritische Argumente in Erinnerung rufen.
Bedeutet das auch einen deutlichen Kurswechsel in Sachen Griechenland?
Seine innenpolitischen Zeichen weisen nach links. Ich glaube, deren Erfolg wird ihn darin bestärken, diesen Weg auch in Sachen EU und Griechenland zu gehen.
Griechenland versinkt weiter in Armut. Die Eurogruppe verlangt erneute Rentenkürzungen, Steuererhöhungen und Arbeitsmarktreformen. Gibt es noch Hoffnung?
Ich hoffe, dass sich das griechische Volk nicht unterkriegen lässt. Die Politik der Bundesregierung hat Griechenland massiv geschadet. Schäuble geht es nicht um eine ökonomisch sinnvolle Perspektive für das Land. Sein Kalkül ist, Syriza zu Fall bringen. Das wollte er immer und er will es weiterhin. Sein Agieren ist hochideologisch. Deswegen müssen wir im Herbst einen Regierungswechsel in Deutschland hinkriegen.
Zunächst steht allerdings im Juli erst einmal die nächste milliardenschwere Kredittranche an, die Griechenland zurückzahlen muss. Droht eine Neuauflage der Krise vom Sommer 2015?
Theoretisch ja. Aber die Sorge um Europa und das Auseinanderbrechen der EU ist seit der Brexit-Entscheidung Großbritanniens viel größer geworden. So wie die Stimmung sich jetzt gewandelt hat, wird Schäuble mit seiner Grexit-Strategie keinen Blumentopf gewinnen.
Sie kritisieren Schäuble hart. Aber Ihre Partei, die SPD, stützt bislang dessen destruktive Politik …
Weil Schäuble und Merkel in dieser Frage das Sagen haben. Sigmar Gabriel hätte höchstens drohen können, aus der Koalition auszutreten. Aber das kam für ihn nicht in Betracht. Gabriel will die Große Koalition vertragstreu und seriös zu Ende bringen, um dann etwas Neues zu starten. Aber er hat sich inzwischen öffentlich von Schäubles Griechenland-Kurs distanziert.
Ziemlich spät.
Ja, das hätte er früher tun müssen. Er hätte schon 2015 deutlich machen müssen, dass die SPD als kleinerer Koalitionspartner diese Politik der Union erträgt, aber nicht freudig unterstützt.
Gabriel hat damals verkündet, dass „deutsche Arbeiternehmer nicht die Wahlversprechen einer kommunistischen Regierung bezahlen“.
Das war sehr schlimm, nationalistisch und schürte Ressentiments. Aber Gabriel hat insbesondere nach den SPD-Wahlniederlagen im Frühjahr 2016 begriffen, dass seine Griechenland-Politik falsch war. Und er hat erkannt, dass die SPD insgesamt als eigenständige politische Kraft nicht ausreichend erkennbar war.
Bei einem Kurswechsel im Umgang mit Griechenland läuft die SPD allerdings Gefahr, dass ihr die Union vorwirft, das Geld der deutschen Steuerzahler zu riskieren.
Umgekehrt wird ein Schuh draus. Wir haben bisher nichts an Griechenland gezahlt, wir haben gebürgt. Ein rationaler Bürge muss alles tun, um Griechenland eine Politik zu ermöglichen, die ihn nicht in diese Bürgschaft zwingt. Die Reaktion von Schäuble ist aber keine rationale ökonomische, sondern eine juristisch-autoritäre: Wir müssen die zwingen! Wie mit dieser Schuldenlast eine Volkswirtschaft durch noch mehr Sparen dazu gebracht werden kann, diese Milliarden zurückzuzahlen, bleibt Schäubles Geheimnis. Kein ernst zu nehmender Ökonom vertritt diese Position. Wenn Martin Schulz offensiv deutlich macht, dass die Union mit dieser Politik das Geld des deutschen Steuerzahlers erst recht riskiert, wäre das eine sehr gute Antwort.
Trotzdem: Es hat bisher noch immer geklappt, Ressentiments gegen die vermeintlich faulen Südeuropäer zu mobilisieren. Würde die SPD mit Eurobonds, für die Schulz sich mal ausgesprochen hat, im Herbst 2017 nicht in eine Falle laufen?
Nicht notwendigerweise. Eine Politik, die den südlichen Ländern die Möglichkeit zum Aufschwung nimmt, ist ein Vabanquespiel. Deshalb ist der deutsche Exportüberschuss, der andere Volkswirtschaften in Europa destabilisiert, ein Problem. Auch für uns: Der europäische Markt ist ein wichtiger Sicherheitspuffer gegenüber Turbulenzen aus den USA und China. Das ist nicht einfach eine moralisch-solidarisierende Politik, sondern auch im eigenen Interesse. Es geht also nicht um „Gutmenschentum“ – wobei ich das Wort als Negativbegriff schrecklich finde. Denn selbstverständlich möchte ich gern ein guter Mensch sein. Das hat mir meine Mutter so beigebracht, und dazu stehe ich. Aber das heißt nicht, dass ich bekloppt bin. Ich kann trotzdem Chancen und Gefahren abwägen.
Aber Unsicherheit zahlt bei den Konservativen ein. Das hat zuletzt Spanien gezeigt, wo es für Podemos gut aussah – bis zum Brexit. Keine Experimente – das kann auch im Herbst in Deutschland die Stimmung sein.
Deswegen darf die SPD die Sicherheit nicht der Union überlassen. Sie muss den Begriff selbst offensiv verwenden. Die Renationalisierung, die Merkel und Schäuble mit ihrer Europapolitik forcieren, schafft doch mehr Unsicherheit. Ebenso wie mehr Geld für die Rüstungsindustrie. Es ist effektiver, wie Sigmar Gabriel betont, mit Entwicklungshilfe für Sicherheit zu sorgen. Das ist ein moralischer, aber vor allem ein realistischer Sicherheitsbegriff. Was man nicht tun darf, ist, den Wunsch nach Sicherheit zu verunglimpfen. Das ist ein tiefes menschliches Bedürfnis und fundamental für den Rechtsstaat. Schon bei Montesquieu kann man lesen, dass es Freiheit nur mit der Sicherheit gibt, politisch eingreifen zu können, ohne bestraft zu werden.
73 Jahre, ist Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. Für ihren Einsatz für eine sozial gerechte Politik wurde ihr am Montag im Willy-Brandt-Haus der August-Bebel-Preis verliehen.
Sie haben Anfang Februar in einem Text die Abkehr von der Agenda 2010 gefordert, zwei Wochen später hat Martin Schulz in Bielefeld Fehler bei der Agenda eingeräumt.
Ich habe mich über diese Koinzidenz sehr gefreut.
Führen Sie das auf Ihren Einfluss auf die SPD-Spitze zurück?
Wenn, dann mittelbar. Schulz’ Erfolg zeigt, dass sich viele in der Partei eine Politik wünschen, die den eigenen Werten entspricht und die Agenda 2010 revidiert. Niemand kann immer im Selbstwiderspruch leben.
Ist es nicht seltsam, dass Martin Schulz plötzlich eine solche Euphorie erzeugt?
Schulz ist nicht belastet von der deutschen Großen Koalition. Und es ist günstig für ihn, dass man in Deutschland seine Politik in der EU, wo er auch in einer Großen Koalition war, nicht so genau beobachtet hat. Das gibt ihm viel Freiheit, zu neuen Ufern vorzustoßen und zu einer kohärenten, linkeren Politik.
Trauen Sie ihm das zu?
Ich traue ihm zu, die Intuition zu haben, um sein Ziel, Kanzler zu werden, seine Politik mit den Wünschen und der Grundstimmung der SPD in Einklang zu bringen.
Ein diplomatischer Satz. Muss Schulz offensiv für Rot-Rot-Grün werben? Oder besser: immer dran denken, nie drüber reden?
Das muss man nicht mit Geheimnis umweben. Die Partei will jedenfalls mehrheitlich Rot-Rot-Grün. Das ist ziemlich klar. Festlegen muss sie sich aber auf Rot-Rot-Grün nicht. Einfach, weil die Mehrheiten im Herbst doch völlig offen sind. Schulz will eine Mehrheit für die SPD.
Aber mit Sahra Wagenknecht haben viele in der SPD Probleme …
Ich habe keine innere Abwehr gegen Frau Wagenknecht. Ebenso wie bei Oskar Lafontaine habe ich vielmehr das Gefühl, mit der kann ich argumentieren. Ich war ja nie ein Fan von ihm, weit entfernt. Deswegen bin ich jetzt aber auch nicht so emotional tangiert. Man muss halt schauen, was möglich ist. Es gibt jedenfalls nur wenige in der SPD, die weiter Juniorpartner in einer Großen Koalition sein wollen, weil das die SPD kaputt macht. Auch die Vorstellung, dass es eine Große Koalition unter Führung der SPD geben könnte, ist schwierig. Nicht nur von den Quantitäten her, sondern auch, weil man damit nicht den Politikwechsel schafft, den wir brauchen.
Das haben 2013 in der SPD anfangs auch viele gesagt – und dann für die Große Koalition gestimmt.
Die Stimmung in der Partei ist jetzt anders. Schon 2013 war die Partei zerrissen. Noch mal ist das nicht hinzukriegen.
Erscheint Rot-Rot-Grün vielen in Ihrer Partei nicht immer noch als ein zu großes Wagnis?
Ach, das ist anders als 2013. Nicht nur wegen der SPD. Ungleichheit und die Spaltung in Arm und Reich sind ein Thema geworden. Bei Angela Merkel haben inzwischen viele den Eindruck, dass sie müde ist und keine Ideen mehr hat. Das Vertrauen in ihre Lösungsfähigkeit ist massiv gesunken. Alle haben gemerkt, dass sie in der Flüchtlingspolitik umgeschwenkt ist. Es war lange Merkels Stärke, unaufgeregt zu sein. Das bedeutete: Sie hat alles unter Kontrolle. Wir haben inzwischen die Erfahrung gemacht, dass sie vieles nicht in der Hand hat. Deshalb wird auch das Unaufgeregte ambivalent. Es bedeutet nun: Ihr fehlen der Instinkt und die Vision für das, was ansteht. Deshalb braucht es eben einen Politikwechsel.
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