Gesellschaftlicher Wandel in Tschetschenien: Terror hinter glänzenden Fassaden
Äußerlich normalisiert sich das Leben in Grosny. Während sich Ramsan Kadyrow als großer Baumeister gibt, herrscht unter der Oberfläche Angst. Die Sitten verrohen.
GROSNY taz | Die einst zerbombte Hauptstadt Tschetscheniens ist nicht wiederzuerkennen. In der ganzen Stadt lärmen Baumaschinen rund um die Uhr. Ununterbrochen schaffen Lkws neue Baumaterialien heran und hüllen die Stadt in eine Staubwolke. Ramsan Kadyrow, der Herrscher in Grosny, ist ehrgeizig. Aus der tschetschenischen Kapitale soll wie früher vor den Kriegswirren wieder die schönste Stadt des Nordkaukasus werden.
Das zumindest versprach Kadyrow, der zu Hause schon als "größter Baumeister der Welt" gefeiert wird. "Ramsan, Grosny ist dir dankbar", verkündet eine Leuchtschrift an der Häuserfront gegenüber der neuen Moschee im Zentrum. Sie ist der Blauen Moschee Istanbuls nachempfunden und mit 10.000 Plätzen angeblich Europas größtes Gotteshaus.
Nebenan eröffnete Russlands dritte islamische Universität mit 600 Studienplätzen die Tore. Sie trägt den Namen des Scheichs Kunta-Hadschi. Der tschetschenische Gandhi aus dem 19. Jahrhundert predigte den kaukasischen Bergvölkern, sich im Krieg gegen den russischen Eroberer nicht sinnlos aufzuopfern. Im Kampf gegen einen stärkeren Gegner zu fallen sei Selbstmord, die größte aller irdischen Sünden. Kunta-Hadschis Pragmatismus ist die Leitidee des neuen Tschetscheniens.
Nach dem Ende des zweiten Tschetschenienkrieges 2000 setzte Moskau den Mufti Achmat Kadyrow als Chef einer tschetschenischen Übergangsregierung ein. 2003 stimmte die Republik in einem Referendum für den Verbleib bei Russland und wählte Kadyrow zum Präsidenten. Referendum und Wahl wurden massiv manipuliert. Im Mai 2004 kam Achmat Kadyrow bei einem Anschlag ums Leben. Kremlchef Putin setzte einen Stellvertreter ein, hielt aber an der Führungsrolle des Kadyrow-Clans fest. Sohn Ramsan wurde zum Nachfolger aufgebaut und 2007 zum Präsidenten gewählt. 2009 hob Moskau das gegen radikal-islamistische Gruppierungen gerichtete Antiterrorregime auf und übertrug die Zuständigkeit an die Kaukasusrepublik. (khd)
Einen Steinwurf entfernt wächst unterdessen ein hypermoderner Geschäftskomplex in die Höhe. Unternehmen aus den Emiraten und der Türkei errichten die verglasten Hochhäuser der Grosny City. Architektonisch erhebt die City schon jetzt den Anspruch einer Metropole. Tradition und Moderne sind eine Einheit, vermittelt das Ensemble.
Erstarrtes Leben
Die Bevölkerung schätzt den Fortschritt. Das beeindruckende Bauprogramm umfasst nicht nur Repräsentativbauten; neue Wohnhäuser entstehen, und ältere Gebäude erhalten neue Fassaden. Als nach mehr als einem Jahrzehnt aus dem neuen 1.500 Kilometer langen Leitungssystem erstmals wieder fließendes Wasser floss, war dies für die Bewohner der Beginn einer neuen Zeitrechnung.
Äußerlich normalisiert sich das Leben. Unter der Oberfläche wühlt indes die Angst. Wer sich der Herrschaft des Kadyrow-Clans widersetzt, bleibt nicht nur von den Segnungen des Wiederaufbaus ausgeschlossen. Der Terror des Regimes kann jeden jederzeit treffen. Das ist wohl der Grund, warum schon am späten Nachmittag die Innenstadt wie ausgestorben ist. Selbst in Kriegszeiten herrschte mehr Treiben auf den Straßen. Die Menschen meiden die Öffentlichkeit. Bürgerrechtler, die nie ein Blatt vor den Mund nahmen, bitten heute um Anonymität. Lachen fällt Grosny schwer.
Das Gefälle zwischen dem Durchschnittstschetschenen und der herrschenden Clique lässt sich im neuen Einkaufstempel Firdaws am Rande des Zentrums in Augenschein nehmen. Hinter den Glasfassaden der Shoppingmall haben sich Markenhersteller aus aller Welt eingerichtet. Von edelsteinverziertem Porzellan orientalischer Provenienz, französischer Babykleidung, Gucci-Handtäschchen bis zu Designermode für die islamische Frau ist alles zu haben. Putzfrauen wienern alle Viertelstunde die ohnehin spiegelblanken Böden. Vor den Auslagen hocken gelangweilt Verkäuferinnen. Ihnen bleibt nichts, als Zeit totzuschlagen, denn Kunden machen sich rar. Es gibt sie aber: "Unsere Ware kann sich nur leisten, wer dazugehört!", sagt Saarema.
Der Kadyrow-Clan ist gemeint. Diese Klientel schaut nicht einfach vorbei, sie vereinbart einen Termin. Warum die neuen Reichen beim Einkaufen nicht beobachtet werden möchten, ist allerdings rätselhaft. Denn die neue Oberschicht des Landes stellt den Luxus gern zur Schau. Sie hat die Phase der Hemmungslosigkeit und Großkotzigkeit noch nicht hinter sich gelassen. Grosny ist eine neue Stadt, auch ihre Bewohner sind nicht mehr die alten.
Einer dieser neuen Städter ist Magomed. Der Teenager taucht aus dem Nichts in der Einkaufsmall auf. Er neigt den Oberkörper nach Rapperart, reckt den gestreckten Daumen in die Luft und erklärt lauthals: "Es gibt nur einen Allah!" Den Wagen des Vaters möchte er unbedingt vorführen. Ein Mercedes-Jeep mit blitzblanken Felgen, die gepflegter sind als die kariösen Zähne des Söhnchens. "Mein Vater ist Berater des Präsidenten!", sagt er. Wir sind die Herren und können uns alles erlauben, heißt das. Tschetscheniens traditionelle Gesellschaft kannte und duldete keine Hierarchien. Grosnys Jeunesse dorée weiß davon nichts mehr.
Erosion der Werte
Unter der aufpolierten Oberfläche verroht das Land. Die Erosion der Werte hat mit Modernisierung nichts gemein. Die Gesellschaft ist orientierungslos. Je deutlicher das wird, desto unnachgiebiger stülpt der Präsident der Gesellschaft das selbst geschneiderte Korsett aus Islam und Tradition über - vielmehr das, was er dafür hält.
Seitdem Ramsan Kadyrow die Nachfolge seines ermordeten Vaters Achmat angetreten hat, mauserte sich der grobschlächtige Dorfbengel zu einem gewieften Politiker. Dem islamistischen Widerstand in den Bergen entzog er - wie Moskau es verlangte - nach und nach die Attraktivität, indem er eine eigene Islamisierung betrieb und Widerständler in seine Reihen aufnahm. "Alles haben wir erreicht, wofür wir früher gekämpft haben", meint Umar, ein übergelaufener Freischärler. "Wir sind so gut wie unabhängig und leben nach den Gesetzen des Islam. Und wer zahlt? Russland!", lacht er, "Ramsan sei Dank."
Kadyrows religiöses Programm unterscheidet sich denn auch kaum von dem des Terroristen und kaukasischen "Emirs" Doku Umarow, der als Strippenzieher der Anschläge in Moskau im März 2010 agierte. Zwar rufen Ramsans Milizen nicht zum heiligen Krieg gegen Moskau auf, aber der Ramsanismus unterhöhlt das russische Rechtssystem und hat es längst durch Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia ersetzt.
Leidtragende sind vor allem die Frauen, die in eine rechtlose Rolle gedrängt werden. Den Tschetschenen war das bislang fremd. Es sind wiederum meist Frauen, die ein Widerwort wagen. Sie, so scheint es in diesem Sommer, sind die einzige Kraft, die das Regime eines Tages infrage stellen könnten. Auch auf dem Dorf wollen sich viele von den willfährigen Statthaltern nicht mehr alles vorschreiben lassen. Wo sich eine kritische Stimme erhebt und Menschenrechtsverletzungen angeprangert werden, stehen Frauen dahinter. Oft lassen sich schon an der Körperhaltung Distanz und Verachtung ablesen.
In den Kriegsjahren stellten sich die Frauen vor ihre Männer, versteckten und schützten sie, ernährten die Familie. Ohne ihren Einsatz gäbe es Tschetschenien wohl nicht mehr. Kadyrow will ihre gewachsene Rolle nicht länger hinnehmen. Arbeiten gezieme sich für eine Tschetschenin nicht, predigt er im Fernsehen immer wieder, die Stellung einer Zweitfrau sei allemal erstrebenswerter. Oft können sich junge Mädchen nicht widersetzen, wenn sie als Zweit- oder Drittfrau gegen ihren Willen mit älteren Männern aus dem Clan verheiratet werden.
Öffentliches Maßregeln
Die Kontrolle der Frau ist bedrückend, sie hängt wie ein Schleier über Grosny. Noch vor zehn Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass eine Frau wegen ihres Äußeren auf der Straße von einem wildfremden Mann gemaßregelt worden wäre. Der Familie war dies vorbehalten, es hätte zu Blutrache geführt, erzählt eine Bürgerrechtlerin. Heute sei es alltäglich.
Auf den ersten Blick fügen sich die Frauen und tragen, wie verlangt, Kopftücher. Sie kokettieren aber mit dem Kopfschmuck, was sie zuweilen noch verführerischer erscheinen lässt. Auch der körperbetonte Maxilook auf schornsteinhohen Absätzen wirkt wie eine ironische Finesse. Wie vieles an der Herrschaft Kadyrows erinnert auch das Kleidergebot an eine Inszenierung, die mit dem Original nur Spielchen treibt. Fantasien eines Erotomanen, sozusagen. Ramsan bekennt sich zur Vielweiberei und ehelicht regelmäßig neue Favoritinnen.
Die Islamisierung sollte zunächst den Widerstand neutralisieren, inzwischen poliert sie auch das Ansehen des Mannes auf. Viele Männer aus einfacheren Verhältnissen begrüßen das. Freitags strömen sie zu Tausenden in die Moschee, die meisten Frauen bleiben lieber zuhause. Das Geschlechterverhältnis ist zu einem Problem geworden, das selbst die Regierungspresse nicht mehr übergehen kann. Sozialarbeiter warnen, Gewalt gegen Frauen hätte ein ungekanntes Ausmaß angenommen.
Islamische Zeitschriften bemühen sich unterdessen, die Frau auf den tugendhaften Pfad zu führen. Die Illustrierte sluchi chodjat ("Gerüchte machen die Runde") rät jungen Bräuten: "Stelle deinem Mann nie ein Ultimatum: Ich oder deine Familie. Lächle, sei duldsam und widersprich der Schwiegermutter nie!" Autor könnte Ramsan Kadyrow sein. Der "größte Baumeister der Welt" ist ehrgeizig. Nach Grosny will er auch dessen Bewohner neu erschaffen. Allein nach seinem Bilde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren